Eine Karte von meinem Bruder gefunden

 

Er schreibt an seine Eltern und Geschwister Mai 1937

.(Abstempelung)

 

Kalendarium
Sprüche, Ereignisse, Prosa  
zu ausgewählten Tagen

 

 

 

Ich übersetze das in eine heute leserliche Schrift:

Meine Lieben!

Herzliche Grüße aus Korvey
bei Höxter. Wir befinden
uns augenblicklich in einer
Gartenwirtschaft und amüsie-
ren uns.
Liebe Grüße an Vater,
Mutter, C., F., B. und Winfried.
Es grüßt Euch Euer Heinz

 

Kommentar:

Zunächst ist interessant, dass Anschrift und Text in unterschiedlichen Schriften geschrieben sind. Es sieht so aus, als wenn mein Bruder bei der Adresse sich sehr um eine leserliche und "amtliche" Schriftweise bemüht habe. Die deutsche Schrift, auch Sütterlin-Schrift genannt, (Text) wurde 1941 durch einen Erlass im damaligen Deutschen Reich verboten. Man kann feststellen,. dass schon Jahre vorher ein Umbruch stattgefunden haben muss. Es kommt der Verdacht hoch, hat vielleicht ein anderer die Anschrift geschrieben habe! Dagegen spricht, dass ein 15-Jähriger sich das wohl nicht aus der Hand nehmen lässt. Genaueres Hinsehen ergibt, dass die Schrift der Adresse gemischt ist: Z.B. ist Hochstr. in Sütterlin geschrieben, der Schreiber war wohl noch nicht so sehr geübt in der lateinischen Schrift. Auch die Unterlängen beim "ff" in Kerkhoff (Adresse) sind ähnlich wie im Text.

Auf jeden Fall will ich der Freude Ausdruck geben, weil ich eine Karte meines verstorbenen Bruders gefunden habe. Mir scheint es grundsätzlich schwierig, von seinen familiären Verwandten Lebensdokumente zu bekommen, da man einfach zu spät danach sucht. Erst, wenn man älter ist, setzt bei den meisten Menschen das Suchen der Vergangenheit ein. Dann sind Verwandten verstorben und können nicht mehr befragt werden, und die Dokumente sind vernichtet. Wie gern hätte ich meine 1976 und 1978 verstorbenen Eltern noch heute nach Dingen aus ihrer Zeit befragt.

Erschwert wird es dann noch dazu, deren habhaft zu werden, wenn z.B. der Bruder mehr als ein Jahrzehnt älter und im letzten Krieg gefallen ist. Mein Bruder war eben 13 Jahre früher geboren und fiel noch 1945, kurz vor Ende des 2. Weltkrieges. Wegen des Krieges gibt es weniger Dokumente, ich habe ihn zudem wenig gesehen, ich wurde 1934 geboren. Ich weiß eben zu wenig von Ihm.  Deswegen die Freude von ihm, Aufzeichnungen zu finden.

Zeitlich wurde die Karte  zwei Jahre vor Ausbruch des 2. Weltkrieges geschrieben. 3 Jahre ist Hitler an der Macht. Das Schulleben scheint im Mai normal zu sein, obwohl Ende dieses Jahres die Gewalttätigkeit Hitlers und seine Kriegsentschlossenheit gegen Tschechoslowakei und Österreich offensichtlich wurden.

Die Karte ist adressiert an die Hochstr. 5 in Münster. Von dieser Zeit habe ich ein Foto von mir, damals war ich 3 Jahre alt. Ich wurde auf der Kronprinzenstr. 13 geboren, wo wir vorher wohnten. Zwei Probleme zeigten sich in der Familie: Einerseits war eine größere Wohnung notwendig, andererseits reichte das Einkommen meines Vaters nicht aus, eine solche zu finanzieren.

Der Inhalt der Karten erinnert an heute geschriebene Karten. Man schreibt, wo man lokal  und zur Zeit des Schreibens ist. Das Wetter kann man herauslesen. Es scheint gut zu sein. Und dann folgen die Grüße. An wen sie gehen sollen, wird oft im einzelnen aufgezählt.

Mein Bruder war damals, als er die Karte schrieb, 15 Jahre und war Internatsschüler (Vechta). Es freut mich, dass man schon damals bekannte heimische Baudenkmäler in Schulausflügen aufsuchte. Die Karte zeigt auf der Rückseite die Barockkirche Corvey. Auch wir, Schüler des Rheiner Gymnasiums, machten 1954 eine längere Schulreise. Dabei wurde auch die Kirche in Corvey aufgesucht im Zusammenhang mit dem Epos Dreizehnlinden. Nur war ich 20 J., wusste aber nicht, dass mein gefallener Bruder auch hier gewesen war.

Der Besuch einer Wirtschaft bei einem Ausflug scheint früher und heute beliebt zu sein. Eine Gartenwirtschaft war es bei meinem Bruder, und sie amüsierten sich. Da muss man unwillkürlich lächeln.  Inhaltlich würde man das auch, nur mit anderen Worten, heute schreiben.

Die am Schluss des Briefes aufgeführten Adressaten der Grüße werden hierarchisch genannte.

Zuerst kommt mein Vater, der innerhalb der Familie eine reale und begründete Rolle spielte. Mir ist diese klar. Er pflegte fachmännisch seinen vorwiegend ausgelegten Nutzgarten, seine Eltern waren ja noch landwirtschaftlich orientiert gewesen -  mein Vater musste noch mit aufs Land Kartoffeln pflanzen und auflesen. Er baute noch als 73-Jähriger mit der hoch einzuschätzenden Mithilfe seiner 13 Jahre jüngeren Frau ein Haus in Münster. Er hatte ein großes Wissen, er half mir in den letzten Klassen - Oberprima - des Gymnasiums bei der Mathematik, er schaute sich das an und konnte helfen, obwohl er einen Realschulabschluss hatte. Auch im Fach Deutsch war er ausgezeichnet, in deutscher Rechtschreibung war er ein Ass. Er war lange Jahre Leiter der Pfarr-Bücherei.  Er konnte fantastisch singen und hat auf seinem 80. Geburtstag mit fester Stimme seine Lieder gesungen. Aber schon für meinen Bruder hatte wohl mein Vater schon damals die führende Rolle in der Familie, er erlebte, dass Vater ihn in ein Internat unterbrachte, wo er bei Patres einen besseren Start für das Leben bekam. Er war wohl in dieser Zeit der Pubertät etwas schwierig, wie alle Jungen - wenigstens in der Regel. Es fällt auch noch auf, dass die Karte adressiert ist an den Vater der Familie. Eine Namenstagskarte für meinen Vater, die ich auch fand, zeigt, dass die christliche Erziehung im Internat Auswirkungen zeigte, wo er schreibt "Dein Dich in Christo liebender Sohn Heinz".

Meine Mutter, als zweite Genannte, weist auf ihre inneren Aufgaben der Familie hin, deren Organisation sich auch mein Vater selbstverständlich unterzog. Meine Mutter war eigentlich die Verwalterin des Hauses, besorgte das selbst noch fehlende Geld dafür und verwaltete führend mit dem Vater Gehalt und später die Pension. Sie hatte viel Arbeit mit den 5 Kindern, dazwischen Fehlgeburten, wie das früher bei vielen Frauen so war.

Auf der Ansichtskarte werden dann die Geschwister fein dem Alter gemäß aufgezählt, keiner kommt zu kurz, keiner wird bevorzugt, auch ich nicht als der einzige Bruder in der Familie.

Mein Bruder wäre Chemiker geworden. Was hätte er zu der heutigen Welt gesagt?

 

 

 

 

 

Analytisches: Schrift

 

 

 

 

 

 

Zurück in die Vergangenheit

 

 

 

 

 

Der Fund

 

 

 

Meine Persönliche Situation

 

 

Karteninhalt

 

 

Ansichtskarte von der Kirche Corvey, frühere Abtei

 

 

 

 

 

 

Adressaten der Grüße

 

Vater

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mutter

 

 

 

Geschwister