1
„Wo bin ich geboren?“, fragte die junge Liebe.
„In den Schaumkronen des Meeres, so wie es die Griechen einst von der
Liebesgöttin Aphrodite berichten,“ antwortete die alte
erfahrene Liebe. „Der Wind des Meeres hat dir einen seiner
vielen Flügel gegeben, damit du dich mit ihm hochschrauben
und gleiten kannst.“
„Und wohin - wird mich der Meereswind wehen, wenn ich in den Lüften
bin?“, wollte die junge Liebe wissen.
„Er wird dich zur Liebesinsel treiben,“ erläuterte die alte Liebe. „Das
ist dein Ziel, dort wirst du bleiben und glücklich sein.“
„Und, ist es weit bis dahin?“, fragte die junge Liebe.
„Ja, es ist sehr weit und anstrengend. Manchmal wird ein Orkan dich
zausen und an deinen Federn rupfen. Vielleicht musst du eine
Zeit lang auf den Wogen in Richtung Insel schwimmen, bis dir
neue Flügelfedern gewachsen sind. Aber du wirst auf jeden
Fall dort ankommen,“ die alte Liebe klang zuversichtlich.
„Das ist aber sehr einsam, wenn es so lange dauert bis zur Liebesinsel,“
erwiderte die junge Liebe traurig.
„Du wirst vielleicht eine andere Liebe unterwegs treffen, die ein Stück
mit dir fliegen will, vielleicht auch länger,“ tröstete die
alte Liebe. „Ihr werdet sehen“.
„Woran kann ich erkennen, dass die andere Liebe mit mir fliegen will,“
wollte die junge Liebe weiter wissen.
„Sie wird es dir sagen. Du wirst es fühlen. Zusammen - mit zwei Flügeln -
werdet ihr besser vorankommen,“ erklärte die alte Liebe.
„Meinst du, dass wir zusammen fliegen können, dass es einen guten
Flügelschlag zusammen gibt?“, fragte die junge Liebe.
„Ihr müsst es ausprobieren. Sonst findest du sicher eine andere Liebe,“
machte die alte Liebe Mut.
„Dann will ich jetzt losfliegen,“ und die junge Liebe schlug kraftvoll
mit ihrem einen Flügel und schraubte sich hoch.
Die alte Liebe schaute sehnsüchtig der jungen Liebe nach, wie sie sich
schnell in den Wind erhob.
Sie wusste, dass es ein langer beschwerlicher Flug war bis zur
Liebesinsel, auch sie - war auf dem Weg dorthin.---
2
Jahre vergingen. Oft wurde die alte Liebe von jüngeren Lieben überholt,
die allein oder aneinander gekoppelt zu zweit mit doppelten
Schwingen flogen.
Die alte Liebe schien allein ganz gut voranzukommen. Sie sah auch mächtig
schaukelnde Doppel und unter sich auf dem Meere zerzauste
Singles und Zweier. Opfer des Orkans. Sie hatte immer Glück
gehabt und konnte den Stürmen ausweichen.
Da entdeckte sie die junge Liebe unten auf dem Meer; sie hatte kaum noch
Schwungfedern. Die alte Liebe ließ sich fallen und landete
neben der jungen Liebe.
3
„Was ist geschehen?“, fragte die alte Liebe.
„Ich kam in einen Orkan, der riss an mir und ich verlor an Federn und
Kraft. Dann traf ich eine andere junge Liebe. Wir flogen
prächtig zusammen. Doch nach kurzer Zeit wurde ich müde, und
wir wurden langsamer. Die andere Liebe stöhnte, weil sie
sich mehr anstrengen musste, um das Tempo zu halten. Wir
wurden immer langsamer.
Es überholten uns immer mehr Lieben, allein und zu zweit. Da ließ die
andere einfach los und flog mit einer kräftigeren jungen
Liebe davon,“ erzählte die junge Liebe und schaute
sehnsüchtig und traurig in die Richtung der Liebesinsel.
Die alte Liebe wusste nicht, war es nun Sehnsucht zur anderen verlorenen
Liebe oder Sehnsucht nach der Insel. -
„Was ist dann mit dir passiert?“, begann die alte Liebe nach einer Pause.
„Ich trudelte nach unten und stürzte ins Meer. Ich war sehr kraftlos,
konnte Tage nicht weiter, nur auf der Stelle treiben." Und
die junge Liebe sackte ineinander. Von der Glut einer jungen
Liebe war kaum noch etwas zu spüren.
„Ich – schwimme mit dir. Ich ziehe dich!“, entschloss sich die alte
Liebe. "Ich zeige dir, wie man neue Kraft gewinnt. Wie man
sich die lange Zeit der Reise vertreibt, wie man sich
gegenseitig - ermutigt."
Und schon - sie voran – schwammen die beiden los. Die alte Liebe
verschenkte Obhut und Fürsorge. Sie wärmte und schützte die
junge Liebe in der Nacht. Beide freuten sich an der Anderen.
Sie kamen gut voran, und die Federn der jungen Liebe wuchsen
- von Tag zu Tag.
4
Die alte Liebe merkte nach Wochen, in denen sie zusammen geschwommen
waren, dass die junge Liebe neuen Lebensmut bekam.
„Ich will wieder fliegen,“ rief die junge Liebe eines Morgens. Und sie
flogen beide; die junge Liebe zunächst im Windschutz der
alten Liebe. Oft waren sie aneinander gekoppelt, um Kraft zu
sparen.
Die junge Liebe gewann Lebensmut und wurde immer schneller. Die alte
Liebe geriet bald außer Atem.
„Flieg allein weiter,“ keuchte die alte Liebe.
„Nein,“ wehrte die junge Liebe ab, „ich werde dich nicht in Stich
lassen!“
Doch - die anderen jungen Lieben - zu zweit oder allein waren schneller,
und so fragte die junge Liebe eines Tages: „Bist du böse,
wenn ich schon mal vorausfliege? Ich habe solch eine
Sehnsucht nach der Insel der Liebe.“
Die alte Liebe lächelte: „Ich würde gern mit dir weiterfliegen, zu zweit
ist es bequemer und schöner, man kann sich unterhalten und
Mut machen, man kann sich gegenseitig die Liebe erklären,
nahe sein und sich beschenken. Aber flieg nur, ich komme
nach.“ Und gab ihr einen kleinen Schub, dass sie auch
wegflog.
„Bis dann, tschüss!“, rief die junge Liebe.
Die alte Liebe sah der schnell davon eilenden jungen Liebe nach, ein paar
Tränen rollten aus ihren Augen, sie ahnte nun, was es hieß
glücklich zu sein, und wünschte der jungen Liebe - einen
guten Schwung und eine heile Reise!
5
Lange
Zeit flog die alte Liebe allein weiter und sehnte sich nach der
Liebesinsel und - dachte oft an die junge Liebe, die schon
voraus geflogen war, da sie es nicht abwarten konnte. Ob sie
schon die Insel erreicht hatte? Keiner wusste ja, wo und wie
weit entfernt diese Insel lag. Denn, wer einmal die
Liebesinsel erreicht hat, bleibt immer dort.
Oft wurde die alte Liebe überholt und manches Mal überholte sie
andere Lieben, die zu zweit oder allein, müde geworden, sich
zur Insel quälten, und viele sah sie unter sich auf den
Wogen des Meeres, allein oder zu zweit, die sich ausruhten
oder im Wind trieben, manche von ihnen zerfleddert und
traurig.
Als sie sich so umschaute, bemerkte sie eine einzelne Liebe von unten
aufsteigen, direkt auf sie zu. Da war wohl jemand, der sie
auserkoren hatte, mit ihr zusammen zu fliegen. Viele andere
Lieben hatten das schon versucht, aber sie hatte lieber
allein weiter fliegen wollen.
Sie hatte immer wieder an die junge Liebe gedacht, mit der sie eine Zeit
lang zusammen gewesen war. Die Erinnerung ließ
sie
nicht
los.
Die einzelne Liebe, die aufgestiegen war, flog nun neben ihr her, sie war
jung, schön und glühte - sehr hell.
„Wie geht es Dir,“ begrüßte sie die alte Liebe. „Erkennst du mich nicht?“
Die - alte - Liebe leuchtete auf. Es war die junge Liebe! „Du?“, stieß
sie hervor, und zugleich zuckte die Liebes-Glut in ihr
unruhig und sie taumelte. Sie sackte tiefer und tiefer,
kraftlos. Ihr letzter Gedanke war: „So werde ich die Insel
der Liebe nie erreichen!“, und ihr Bewusstsein schwand. Sie
fand sich wieder auf dem Meer.
6
Aber sie war nicht allein. Die junge Liebe erklärte: „Ich habe hier auf
dich gewartet. Das letzte Stück bis zur Insel der Liebe ist
wohl besonders schwer. Ich habe nämlich gesehen, dass hier,
- anders als vorher, nicht die Gleichstarken miteinander
fliegen, sondern die starken Lieben die schwachen ziehen. So
wie du - es mit mir schon vor langer Zeit gemacht hast.“
„Da bist du auf die Idee gekommen, auf mich zu warten,“ ergänzte die alte
Liebe lächelnd, „aber mit mir - wirst du es nicht leicht
haben!“
„Doch!“, beschwichtigte die junge Liebe, „wenn man jemanden zieht, ist
man viel stärker und schneller, als wenn man zu zweit -
schlecht fliegt!“
Es war nicht einfach für die junge Liebe, die alte Liebe zu ziehen. Aber
die alte Liebe erholte sich - nach und nach; bald flogen sie
zu zweit nebeneinander, verhakt, wenn auch ein wenig schief,
weil die junge Liebe - einen kräftigeren Flügelschlag hatte.
Sie wussten, der Weg zur Insel der Liebe war weit. Sie mussten vielleicht
noch Jahre fliegen. Aber eines Tages - würden sie ankommen.
Ó
Winfried Kerkhoff |