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Kalendarium
Sprüche, Ereignisse, Prosa zu ausgewählten Tagen
seit 14.2.2002 |
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Schlussball-Erinnerungen
In meinem Leben war das Jahr 1953 ein Zeitpunkt,
der – rückschauend - meiner Zukunft eine bestimmte Richtung gab.
Zunächst schien das lebensbestimmende Ereignis gar nicht
auffallend.
Tanzkurs
Ich war im vorausgehenden Jahr 18 geworden und
meine Schwestern, besonders die älteste mit Namen Cissi, machten
meinen Eltern klar, dass es an der Zeit war, dass ich einen
Tanzkurses mitmachte. Es war in Burgsteinfurt, dort wohnten wir,
bekannt, dass die Mädchen-Realschule junge Männer suchte für
einen Tanzkurs, der in der Regel ein Jahr vor dem
Mittelschulabschluss stattfand. Auch meine Eltern kamen zu dem
Entschluss, dass es eine gute Gelegenheit war, dieses Angebot zu
nutzen.
Dass ich
begeistert war, kann ich gerade nicht sagen.
Ob meine
Geschwister jemals einen Tanzkurs teilnahmen, weiß ich nicht.
Damals interessierte es mich auch nicht, es zu erfahren. Ich war
seit 1950 Schüler des Rheiner Gymnasiums und hörte von meinen
Mitschülern, dass der eine oder andere von einem Tanzkurs in
Rheine oder Umgebung sprach. Aber Neugierde hatten deren
Erfahrungen bei mir nicht geweckt.
Die Jungen, die in Burgsteinfurt am Tanzkursus teilnehmen
würden, waren zum großen Teil vom Gymnasium aus Burgsteinfurt,
das ich nach dem 2. Weltkrieg (von 1946 bis 1949) besuchte, ehe
ich mich entschloss, in einer Internatsschule meine
„Gymnasiallaufbahn“ weiter zu verfolgen. Die infrage kommenden
Tanz-Schüler waren viel jünger als ich, ich kannte kaum welche
von ihnen. Ich fiel aber nicht sehr auf, stellte ich später
fest, da man mir meine achtzehn Lenze nicht ansah. Ich war auch
nicht auffallend groß.
Kontakte
Ich glaube
nicht, dass ich kontakt-arm war. Ich wurde früh Messdiener –
schon in den Jahren des Krieges, als wir noch in Münster
wohnten, war ich in der Jugendgruppe und fuhr, als ich selbst
eine Gruppe (katholische Jugend) führte, mit etwa 15 bis 20
Jungen, die ca. 14 Jahre alt waren, ins mehrwöchige Zeltlager.
Manchmal in einem noch größeren Trupp, wenn mein damaliger und
gleichaltrigen Freund mit seiner Jungengruppe sich anschloss.
Beide waren wir 17 Jahre. Ich war mit ihm im Kirchenchor und im
Singekreis. Mit den Mitgliedern des Kirchenchores führten wir
viele Messen in der Kirche auf. Mit dem jungen Singekreis waren
wir in verschiedenen Veranstaltungen der Gemeinde vertreten. An
Sonntagen half ich meinem Vater, der die katholische Bücherei
des Borromäusvereins leitete, Bücher auszugeben. Jeden Sonntag
von 11 bis 13 Uhr. Diese Situation verschaffte mir die
Möglichkeit, eine Leseratte zu werden, die zeitweise 5 bis 6
Bücher in der Woche verschlang und den Schulbesuch als
notwendige und leider unumgängliche Nebenaufgabe betrachtete.
Mädchen
Mädchen waren für mich ganz normal.
Ich hatte ja drei Schwestern, die waren Jahre älter als ich. Es
kommt sicher nicht von ungefähr, dass ich, als ich zum ersten
Mal mit mehren Mädchen zusammen kam, wenig Distanz zeigte.
Dazu eine Begebenheit aus der ersten Schulklasse in Münster.
Damals trugen viele Mädchen ein Zopf. So auch in meiner Klasse.
Mir machte es ungeheuren Spaß, diese Mädchen an ihrem Zopf
kräftig zu ziehen. Darin ein mädchen-feindliches Verhalten zu
deuten, ist sicherlich übertrieben. Übrigens mein Verhalten den
Mädeln mit Zopf gegenüber fand ein schnelles Ende. Eines Tages
schellte es an unserer Haustür. Meine Mutter öffnete. Ich hörte
viele Stimmen. Meine Mutter rief mich. Vor der Tür standen die
Eltern der geärgerten Mädchen. Ich war sehr erschrocken,
das meine "kleinen Neckereien" einen solchen Wirbel nach sich
zog.
Sicherlich wurden meine Schwestern zu
kleinen Dienstleistungen den Jüngeren gegenüber herangezogen. So
erzählte mir meine zwölf Jahre ältere Schwester, dass sie mir
als Säugling unter laufendem Wasser den Po gewaschen hat.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, das meine Schwestern mich immer
als kleinen "Bubi" sahen, den sie mit groß ziehen mussten.
Mit 12 Jahren hatte ich ein
gleichaltriges Mädchen im Kettenkarussell während der Kirmes auf
meinem Schoß sitzen. Wir waren beide in der 5. Schulklasse.
Diese erste Freundschaft hielt zwar nicht lange; meine Mutter
bestand darauf, diese Beziehung zu beenden: Ich sei noch zu
jung, meinte sie. Ich hatte voller Stolz ihr im Vertrauen meine
Beziehung gebeichtet. Ich verkraftete diese Trennung recht gut.
Es war höchstens mein Stolz verletzt, denn sie hatte kurz nach
mir einen anderen Jungen aus der Klasse und unternahm mit ihm
manchen Ausflug. Auf dem Gymnasium Burgsteinfurt bekam ich die
Aufgabe angetragen, dem ersten Mädchen in der Klasse, Tochter
eines Studienrates, nachmittags bei den Hausarbeiten zu helfen.
Ich war froh, als sie sich kurze Zeit später einen anderen
„Hauslehrer“ aussuchte. Mädchen wurden mir irgendwie egal.
Vielleicht hatte ich an meinen Schwestern genug weibliche
Umgebung.
Internat
In der dritten
Gymnasialklasse in Burgsteinfurt - dorthin waren wir im Krieg
evakuiert worden und hängen geblieben - lernte ich Latein.
Ich
wollte jetzt Missionar werden und ging für knapp zwei
Jahre in ein Internat, auf eigenen Wunsch. Durch diesen
Schulwechsel hätte ich zwei Jahre verloren, da mein Jahrgang
dort schon drei Jahre Latein hatte. Ich musste mindestens ein
Jahr aufholen. So meldete mich mein Vater im Januar vom
Gymnasium in Burgsteinfurt ab. In der Zeit bis Ostern zum
Schulwechsel sollte ich ein Jahr Latein nachholen. So der Vorschlag der Leitung
der Internatsschule. Um die anderen Fächer sollte ich mir keine
Sorgen machen. Jeden Morgen hatte ich also Lateinunterricht
privat und nachmittags lernte ich für den morgigen Unterricht.
Es war eine angenehme Zeit. Latein und - Musik. Außer dem
Lateinlernen hatte ich zweimal in der Woche Klavierunterricht,
den ich schon vorher begonnen hatte. Von meinen Eltern ein
kluges Arrangement. Mir gefiel diese Zeit sehr gut,
obwohl ich anständig pauken musste. Latein und Musik wurden meine Lieblingsfächer. - Als ich
später Vergünstigungen in dieser
Internatsschule angeboten bekam, weil man mich als
Missionarskandidaten unbedingt – ich wurde damals Klassenbester
- behalten wollte, stieg ich aus. Ich war damals ein
Gerechtigkeitsfanatiker, der keine Sonderwürste haben wollte.
Mein Vorschlag, allen meiner Klassenkameraden die mir in
Aussicht gestellten Vorzüge zu gewähren, wurde nämlich
abgelehnt.
Als ich wieder zu Hause lebte (Herbst 1950) und
meine jüngste Schwester nach ihrem Abitur im Internat auch
wieder zurückkam, lernte ich – mittlerweile17 Jahre - durch sie
ein Mädchen mit langem Zopf kennen. Eines Tages brachte sie mir
von diesem Mädchen die Nachricht, sie sei an Bekanntschaften mit
Jungen nicht interessiert. Ich war überrascht. Ich hatte meiner
Schwester erzählt, dass ich das Mädchen nett fände, aber ich
hatte nicht den Wunsch geäußert zu vermitteln. Meine Schwester
war wohl ein wenig übereifrig gewesen.
In dem Singekreis, der ungefähr 15 junge Sänger
bzw. Sängerinnen hatte und in dem die Mädchen bei weitem in der
Mehrheit waren, fand ich einige Mädchen nett, aber sie waren
für mich nicht anziehend.
Nun war ich also angemeldet für den Tanzkursus.
Aus dem Singekreis waren auch zwei Mädchen - Löchte mit Namen - da. Zwei, die
aussahen wie Zwillinge aber keine waren.
Mittelball
Zum Mittelball lud ich Erika, die ältere, von den Löchte-Mädchen
ein, deren Vorname ich aus dem Singkreis ja kannte und die ich
nicht unangenehm fand. Aber mehr war da nicht.
Von Erika erfuhr ich später, dass meine Einladung bei ihr große
Freude auslöste. Im Moment der Einladung merkte ich aber nichts
von ihrer Begeisterung. Sie hatte sich ganz schön gebremst und
zurückgehalten. Sie hatte gefürchtet, dass ein anderer mir
zuvorkommen würde und sie einlud. Dem hätte sie ja schlecht
absagen können. Sie war über meine Einladung so außer sich, dass
sie am Abend ihr Bett als Trampolin benutzte und wie besessen
darin herumhüpfte. Bei diesem Freudentaumel brach der
Sprungfederrahmen entzwei! Gut, dass die Väter so etwas wieder
herrichten können.
Der Mittelball kam. Erika gestand mir später, dass sie schon
damals ganz schön verliebt gewesen war. Für mich war es
insgesamt ein schöner Abend. Aber mehr nicht. So hoffte Erika
insgeheim, dass die Zeit für sie arbeiten würde, und wartete bis
zum Schlussball. Am 19.September 1953 war Schlussball.
Schlussball
Der 19.September war zugleich der Geburtstag meines Vaters. Er
wurde 71 Jahre, war aber in seinem Herzen und in seiner
körperlichen und geistigen Kraft jünger als mancher 50jährige.
Er ließ es sich nicht nehmen, den Schlussball mit seinem
jüngsten und ihm verbliebenen Sohn mitzufeiern trotz seines
Geburtstages. Er tanzte auch mit Erika. Meine Mutter konnte
nicht tanzen, für sie war meine älteste Schwester mitgegangen.
Gefragt hatte mich keiner, ob das so mir passte.
Was mich heute noch wundert
ist, dass ich an diesem Abend sehr
mit der Jagd nach Tänzen mit den anderen Mädchen beschäftigt
war, ich wollte von allen in meiner Ballzeitung ihre
Unterschriften haben.
Es
war der Abend schon vorangeschritten, da kam Erika auf mich zu
und fragte: „Wo warst du? Ich habe dich kaum gesehen. Nicht ein
einziges Mal hast du bis jetzt mit mir getanzt!“ Das saß.
Erika stand vor mir, sah hinreißend in ihrem langen zart
türkisfarbenen Schlussballkleid aus. Bei mir funkte es. Mich
traf es wie aus heiterem Himmel. Ich war augenblicklich in sie
„verschossen“. Alle Tänze reservierte ich bei ihr. Es war
wirklich um mich geschehen. Sie verzieh mir. Und wir tanzten und
tanzten.
Doch nichts weiteres geschah zwischen Erika und mir an diesem
Abend der großen Liebeserkenntnis. Keine Umarmung, kein Kuss,
nur eingehakt und eng an den anderen angeschmiegt gingen wir zu
Fuß allein durch den großen Bagnowald bei der Stadt
Burgsteinfurt nach Hause. Aber es war wunderschön!
Und weiter?
Ab
da trafen wir uns oft. Viel zu oft, meinten beiderlei
Elternteile. Überall, wo getanzt werden konnte, waren wir zu
finden. Und wir konnten es, auch mit vielen neuen Tanz-Figuren,
die ich aus Büchern lernte oder die ich erfand und mit Erika
übte. Vielerlei Leute aus der Stadt sprachen unsere Eltern auf
unsere „Liebelei“ an mit dem Hinweis, das dürfe man doch nicht
zulassen. Neid? Tratschsucht? Sittenwächterei? Sicherlich keine
ehrliche Sorge um unser Seelenheil oder persönliches oder
berufliches Fortkommen.
Getanzt haben Erika und ich wirklich sehr oft, auch als wir
verheiratet waren. Besonders die Karnevalzeit haben wir dazu
genutzt. Als James Last mit seinem Orchester in der
Münsterland-Halle in den 80er Jahren zu Karneval spielte, waren
Erika und ich natürlich da. Im Karnevalskostüm. Wir tanzten fast
pausenlos und hatten nicht einmal einen Tisch.
Der letzte Tanz
Unser
letzter Tanz war auf unserer Silberhochzeit im Dezember 1983.
Ein knappes Jahr später – am 24. 10. 1984 – traf Erika ein
Schlaganfall. In der Zeit ihrer Krankheit, wo sie gänzlich bis
auf den rechten Arm gelähmt war, sagte sie oft zu mir: Ich
möchte so gern noch einmal mit dir tanzen! Ja! Das wäre ein Fest
geworden. |
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