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Schlussball-Erinnerungen

 

In meinem Leben war das Jahr 1953 ein Zeitpunkt, der – rückschauend - meiner Zukunft eine bestimmte Richtung gab. Zunächst schien das lebensbestimmende Ereignis gar nicht auffallend.

Tanzkurs

Ich war im vorausgehenden Jahr 18 geworden und meine Schwestern, besonders die älteste mit Namen Cissi, machten meinen Eltern klar, dass es an der Zeit war, dass ich einen Tanzkurses mitmachte. Es war in Burgsteinfurt, dort wohnten wir, bekannt, dass die Mädchen-Realschule junge Männer suchte für einen Tanzkurs, der in der Regel ein Jahr vor dem Mittelschulabschluss stattfand. Auch meine Eltern kamen zu dem Entschluss, dass es eine gute Gelegenheit war, dieses Angebot zu nutzen. Dass ich begeistert war, kann ich gerade nicht sagen. Ob meine Geschwister  jemals einen Tanzkurs teilnahmen, weiß ich nicht. Damals interessierte es mich auch nicht, es zu erfahren. Ich war seit 1950 Schüler des Rheiner Gymnasiums und hörte von meinen Mitschülern, dass der eine oder andere von einem Tanzkurs in Rheine oder Umgebung sprach. Aber Neugierde hatten deren Erfahrungen bei mir nicht geweckt.

Die Jungen, die in Burgsteinfurt am Tanzkursus teilnehmen würden, waren zum großen Teil vom Gymnasium aus Burgsteinfurt, das ich nach dem 2. Weltkrieg (von 1946 bis 1949) besuchte, ehe ich mich entschloss, in einer Internatsschule meine „Gymnasiallaufbahn“ weiter zu verfolgen. Die infrage kommenden Tanz-Schüler waren viel jünger als ich, ich kannte kaum welche von ihnen. Ich fiel aber nicht sehr auf, stellte ich später fest, da man mir meine achtzehn Lenze nicht ansah. Ich war auch nicht auffallend groß.

Kontakte

Ich glaube nicht, dass ich kontakt-arm war. Ich wurde früh Messdiener – schon in den Jahren des Krieges, als wir noch in Münster wohnten, war ich in der Jugendgruppe und fuhr, als ich selbst eine Gruppe (katholische Jugend) führte, mit etwa 15 bis 20 Jungen, die ca. 14 Jahre alt waren, ins mehrwöchige Zeltlager. Manchmal in einem noch größeren Trupp, wenn mein damaliger und gleichaltrigen Freund mit seiner Jungengruppe sich anschloss. Beide waren wir 17 Jahre. Ich war mit ihm im Kirchenchor und im Singekreis. Mit den Mitgliedern des Kirchenchores führten wir viele Messen in der Kirche auf. Mit dem jungen Singekreis waren wir in verschiedenen Veranstaltungen der Gemeinde vertreten. An Sonntagen half ich meinem Vater, der die katholische Bücherei des Borromäusvereins leitete, Bücher auszugeben. Jeden Sonntag von 11 bis 13 Uhr. Diese Situation verschaffte mir die Möglichkeit, eine Leseratte zu werden, die zeitweise 5 bis 6 Bücher in der Woche verschlang und den Schulbesuch als notwendige und leider unumgängliche Nebenaufgabe betrachtete.

Mädchen

Mädchen waren für mich ganz normal. Ich hatte ja drei Schwestern, die waren Jahre älter als ich. Es kommt sicher nicht von ungefähr, dass ich, als ich zum ersten Mal mit mehren Mädchen zusammen kam, wenig Distanz  zeigte. Dazu eine Begebenheit aus der ersten Schulklasse in Münster. Damals trugen viele Mädchen ein Zopf. So auch in meiner Klasse. Mir machte es ungeheuren Spaß, diese Mädchen an ihrem Zopf kräftig zu ziehen. Darin ein mädchen-feindliches Verhalten zu deuten, ist sicherlich  übertrieben. Übrigens mein Verhalten den Mädeln mit Zopf gegenüber fand ein schnelles Ende. Eines Tages schellte es an unserer Haustür. Meine Mutter öffnete. Ich hörte viele Stimmen. Meine Mutter rief mich. Vor der Tür standen die Eltern der geärgerten Mädchen.  Ich war sehr erschrocken, das meine "kleinen Neckereien" einen solchen Wirbel nach sich zog.

Sicherlich  wurden meine Schwestern zu kleinen Dienstleistungen den Jüngeren gegenüber herangezogen. So erzählte mir meine zwölf Jahre ältere Schwester, dass sie mir als Säugling unter laufendem Wasser den Po gewaschen hat. Irgendwie hatte ich das Gefühl, das meine Schwestern mich immer als kleinen "Bubi" sahen, den sie mit groß ziehen mussten.

Mit 12 Jahren hatte ich ein gleichaltriges Mädchen im Kettenkarussell während der Kirmes auf meinem Schoß sitzen. Wir waren beide in der 5. Schulklasse. Diese erste Freundschaft hielt zwar nicht lange; meine Mutter bestand darauf, diese Beziehung zu beenden: Ich sei noch zu jung, meinte sie.  Ich hatte voller Stolz ihr im Vertrauen meine Beziehung gebeichtet. Ich verkraftete diese Trennung recht gut. Es war höchstens mein Stolz verletzt, denn sie hatte kurz nach mir einen anderen Jungen aus der Klasse und unternahm mit ihm manchen Ausflug.  Auf dem Gymnasium Burgsteinfurt bekam ich die Aufgabe angetragen, dem ersten Mädchen in der Klasse, Tochter eines Studienrates, nachmittags bei den Hausarbeiten zu helfen. Ich war froh, als sie sich kurze Zeit später einen anderen „Hauslehrer“ aussuchte.  Mädchen wurden mir irgendwie egal. Vielleicht hatte ich an meinen Schwestern genug weibliche Umgebung.

Internat

In der dritten Gymnasialklasse in Burgsteinfurt - dorthin waren wir im Krieg evakuiert worden und hängen geblieben - lernte ich Latein. Ich wollte jetzt Missionar werden und  ging für knapp zwei Jahre in ein Internat, auf eigenen Wunsch. Durch diesen Schulwechsel hätte ich zwei Jahre verloren, da mein Jahrgang dort schon drei Jahre Latein hatte. Ich musste mindestens ein Jahr aufholen. So meldete mich mein Vater im Januar vom Gymnasium in Burgsteinfurt ab. In der Zeit bis Ostern zum Schulwechsel sollte ich ein Jahr Latein nachholen. So der Vorschlag der Leitung der Internatsschule. Um die anderen Fächer sollte ich mir keine Sorgen machen. Jeden Morgen hatte ich also Lateinunterricht privat und nachmittags lernte ich für den morgigen Unterricht. Es  war eine angenehme Zeit. Latein und - Musik. Außer dem Lateinlernen hatte ich zweimal in der Woche Klavierunterricht, den ich schon vorher begonnen hatte. Von meinen Eltern ein kluges Arrangement. Mir gefiel diese Zeit  sehr gut, obwohl  ich anständig pauken musste.  Latein und Musik wurden meine Lieblingsfächer. - Als ich später Vergünstigungen in dieser Internatsschule angeboten bekam, weil man mich als Missionarskandidaten unbedingt – ich wurde damals Klassenbester - behalten wollte, stieg ich aus. Ich war damals ein Gerechtigkeitsfanatiker, der keine Sonderwürste haben wollte. Mein Vorschlag, allen meiner Klassenkameraden die mir in Aussicht gestellten Vorzüge zu gewähren, wurde nämlich abgelehnt.

Als ich wieder zu Hause lebte (Herbst 1950) und meine jüngste Schwester nach ihrem Abitur im Internat auch wieder zurückkam, lernte ich – mittlerweile17 Jahre -  durch sie ein Mädchen mit langem Zopf kennen. Eines Tages brachte sie mir von diesem Mädchen die Nachricht, sie sei an Bekanntschaften mit Jungen nicht interessiert.  Ich war überrascht. Ich hatte meiner Schwester erzählt, dass ich das Mädchen nett fände, aber ich hatte nicht den Wunsch geäußert zu vermitteln. Meine Schwester war wohl ein wenig übereifrig gewesen.

In dem Singekreis, der  ungefähr 15 junge Sänger bzw. Sängerinnen hatte und in dem die Mädchen bei weitem in der Mehrheit waren, fand ich einige Mädchen nett, aber sie  waren für  mich nicht anziehend.

Nun war ich also angemeldet für den Tanzkursus. Aus dem Singekreis waren auch zwei Mädchen - Löchte mit Namen - da. Zwei, die aussahen wie Zwillinge aber keine waren.

Mittelball

Zum Mittelball lud ich Erika, die ältere, von den Löchte-Mädchen ein, deren Vorname ich aus dem Singkreis ja kannte und die ich nicht unangenehm fand. Aber mehr war da nicht.

Von Erika erfuhr ich später, dass meine Einladung bei ihr große Freude auslöste. Im Moment der Einladung merkte ich aber nichts von ihrer Begeisterung. Sie hatte sich ganz schön gebremst und zurückgehalten. Sie hatte gefürchtet, dass ein anderer mir zuvorkommen würde und sie einlud. Dem hätte sie ja schlecht absagen können. Sie war über meine Einladung so außer sich, dass sie am Abend ihr Bett als Trampolin benutzte und wie besessen darin herumhüpfte. Bei diesem Freudentaumel brach der Sprungfederrahmen entzwei! Gut, dass die Väter so etwas wieder herrichten können.

Der Mittelball kam. Erika gestand mir später, dass sie schon damals ganz schön verliebt gewesen war. Für mich war es insgesamt ein schöner Abend. Aber mehr nicht. So hoffte Erika insgeheim, dass die Zeit für sie arbeiten würde, und wartete bis zum Schlussball. Am 19.September 1953 war Schlussball.

Schlussball

Der 19.September war zugleich der Geburtstag meines Vaters. Er wurde 71 Jahre, war aber in seinem Herzen und in seiner körperlichen und geistigen Kraft jünger als mancher 50jährige. Er ließ es sich nicht nehmen, den Schlussball mit seinem jüngsten und ihm verbliebenen Sohn mitzufeiern trotz seines Geburtstages. Er tanzte auch mit Erika. Meine Mutter konnte nicht tanzen, für sie war meine älteste Schwester mitgegangen. Gefragt hatte mich keiner, ob das so mir passte. 

Was mich heute noch wundert ist, dass ich an diesem Abend sehr mit der Jagd nach Tänzen mit den anderen Mädchen beschäftigt war, ich wollte von allen in meiner Ballzeitung ihre Unterschriften haben.

Es war der Abend schon vorangeschritten, da kam Erika auf mich zu und fragte: „Wo warst du? Ich habe dich kaum gesehen. Nicht ein einziges Mal hast du bis jetzt mit mir getanzt!“ Das saß.

Erika stand vor mir, sah hinreißend in ihrem langen zart türkisfarbenen Schlussballkleid aus. Bei mir funkte es. Mich traf es wie aus heiterem Himmel. Ich war augenblicklich in  sie „verschossen“. Alle Tänze reservierte ich bei ihr. Es war wirklich um mich geschehen. Sie verzieh mir. Und wir tanzten und tanzten.

Doch nichts weiteres geschah zwischen Erika und mir an diesem Abend der großen Liebeserkenntnis. Keine Umarmung, kein Kuss, nur eingehakt und eng an den anderen angeschmiegt gingen wir zu Fuß allein durch den großen Bagnowald bei der Stadt Burgsteinfurt nach Hause. Aber es war wunderschön!

Und weiter?

Ab da trafen wir uns oft. Viel zu oft, meinten beiderlei Elternteile. Überall, wo getanzt werden konnte, waren wir zu finden. Und wir konnten es, auch mit vielen neuen Tanz-Figuren, die ich aus Büchern lernte oder die ich erfand und mit Erika übte. Vielerlei Leute aus der Stadt sprachen unsere Eltern auf unsere „Liebelei“ an mit dem Hinweis, das dürfe man doch nicht zulassen. Neid? Tratschsucht? Sittenwächterei? Sicherlich keine ehrliche Sorge um unser Seelenheil oder persönliches oder berufliches Fortkommen.

Getanzt haben Erika und ich wirklich sehr oft, auch als wir verheiratet waren. Besonders die Karnevalzeit haben wir dazu genutzt. Als James Last mit seinem Orchester in der Münsterland-Halle in den 80er Jahren zu Karneval spielte, waren Erika und ich natürlich da. Im Karnevalskostüm. Wir tanzten fast pausenlos und hatten nicht einmal einen Tisch.

Der letzte Tanz

Unser letzter Tanz war auf unserer Silberhochzeit im Dezember 1983. Ein knappes Jahr später – am 24. 10. 1984 – traf Erika ein Schlaganfall. In der  Zeit ihrer Krankheit, wo sie gänzlich bis auf den rechten Arm gelähmt war, sagte sie oft zu mir: Ich möchte so gern noch einmal mit dir tanzen! Ja! Das wäre ein Fest geworden.

 

 

 

 

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