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             Wo die Sonne mittags im Norden steht 
             Cruzeiro do Sul in Acre 

 

 

8 Nachts in Cruzeiro

 

Nicht dass hier falsche Erwartungen geweckt werden. Ich werde euch nicht vom Nachtleben oder von der Liebe in Brasilien bei Nacht erzählen. „In Kreuzberg sind die Nächte lang...“ In Cruzeiro, wie ihr sehen werdet, auch. Darum lest weiter, denn die Nächte in Cruzeiro sind voller Leben.

Die Nächte sind hier wirklich sehr lang, von ca. 18.30 Uhr bis kurz vor 6 Uhr in der Früh.  Und es geht sehr schnell vom Tag zu Nacht. Eine Dämmerung, wie bei uns, wo es Stunden dauert, bis es wirklich dunkel ist, gibt es nicht, wo ich war.  In ca. 20 Minuten ist es dunkel. 

Zu der Zeit, als ich da war, waren die Nächte angenehm warm, wie wir uns das so im Sommer vorstellen und wünschen, und oft, wenn es mondklar war, hell und romantisch schön. Und bei einer wolkenlosen Nacht konnte man die Augen nicht vom unendlich großen sternenübersäten und glitzernden Himmel lösen. Blinkten sie mir zu?

Es sind die Nächte, in denen die Sehnsüchte wach werden, Sehnsucht  nach Geborgenheit, Liebe, Partnerschaft, jene heimliche unstillbare Sehnsucht, wie die deutschen Romantiker sie umschrieben, nach der blauen Blume oder andere mit der religiösen  Sehnsucht nach dem Unbekannten, Geheimnisvollen, Göttlichen, Unvergänglichen.

Doch für eine Liebestreffen draußen scheinen die Nächte doch oft weniger geeignet wegen der Feuchtigkeit und der vielen Viecher, die des Nachts munter werden und unterwegs sind, wie Stechmücken, Frösche, Kröten, Küchenschaben, Ameisen. Nicht zu vergessen die vielen winzigen Milben und Flöhe auf Pflanzen etwa, die nur darauf warten, wenn du durch den Rasen gehst, an deinen Beinen hochzuklettern, ohne, dass du es merkst. Zu spät erst, nämlich an den vielen Bissen an den darauffolgenden Tagen. Besonders unangenehm ist, im Urwald - sowohl am Tage wie in der nacht - mit ungeschützten Füßen spazieren zu gehen. Manchmal, wenn du Licht hast, kommt aus dem Dunkeln ein Tier geflogen und du bist gewaltig erschrocken, aber es war nur eine Heuschrecke. da ist es schon besser unter dem Moskitonetz.

Auch die Stadt Cruzeiro selbst bietet einige Überraschungen bei Nacht, wenn du die Straßen nicht kennst und dir eine Taschenlampe fehlt, nämlich  die Kanallöcher  oder Straßenschäden  oder die Pfützen.

Wenn es dunkel wird in Cruzeiro, entwickelt die Stadt eine eigenartige Akustik. Sie wird hellhörig. Der Schall verlagert sich, scheint über der Stadt zu schweben, zu hallen wie in einem großen Saal. Es fehlen die hohen Häuser und die hohen Bäume, die den Schall dämpfen.

In den ersten Tagen, besonders am ersten Wochenende, fiel mir auf, dass man draußen einsame langgezogene Rufe hörte. Ich habe erst gedacht, es sei ein untröstlicher Liebhaber, der vor dem Haus seiner Liebsten oder vor dem Haus ihres neuen Liebhabers steht, wo sie gerade weilt, und seine schmachtenden und verzweifelten Klagen hinaus ruft. Es war manchmal etwas unheimlich. Welch ein Land, dachte ich, und mir kamen Romeo und Julia in den Sinn, obwohl die ja sicher nicht wolfsartig geklagt haben.

Doch das geheimnisvolle Rufen fand dann in den nächsten Tagen, als ich nun Näheres wissen wollte und umherfragte, eine sehr schlichte Erklärung. Es sind Verkäufer, die hier in Kunststoffbehältern allerhand zum Essen, das in Eisblöcke gegen die Hitze gepackt, lauthals anbieten, von Bananen bis zu eingepackten gekochten Nudeln. usw. Ihre langgedehnten Rufe, schallen, besonders wenn es etwas ruhiger in den Straßen wird, also in der Nacht weithin. Ja, und dann kam eben meine Fantasie dazu...

Wenn es dunkel ist, hört keineswegs das Leben in Cruzeiro auf. Die Kinder spielen draußen, manchmal bis 22 oder 23 Uhr auf der Straße bei Straßenlaternenlicht. Das soll verboten sein, dass Kinder noch so spät auf der Straßen sind, wegen der Gefahr der Kinderprostitution, die hier wohl sehr stark ist und eine große Dunkelziffer hat, aber wen kümmert es. Man hört bis in die späten Abendstunden Hämmern und Klopfen. Viele bauen ihr Haus oder erweitern es abends, wenn sie von der Arbeit wieder zurück sind, bei Lampenschein. Manchmal hör ich den Bäcker, der nebenan wohnt, abends um 21.00, manchmal 22.00 Uhr und später sein Holz mit der Axt klein schlagen. Dieser Bäcker heizt seinen großen Backofen mit Holz! Und dafür zerkleinert er oder sein Gehilfe die Holzklötze - mächtige Holzklötze sind das, du kannst es dir kaum vorstellen -, die angeliefert und vor dem Haus abgeladen wurden. Da haben die Bäckerleute schon ein ordentliches Pensum am Tag zu schaffen, wenn der Brotofen den ganzen Tag über mit Holz geheizt werden soll, denn es war keine kleine Bäckerei, und sie backten nicht nur kleine Brötchen.

Bis in die Nacht hinein hörst du jeden Tag die Grillen. Die Frösche, die schon mal am Nachmittag um 15 Uhr ihr vielstimmiges Konzert begannen, sind sehr ausdauernd und quaken bis23 – 24 Uhr in der Nacht. Besonders an den Tagen, wo es sehr feucht ist, sitzen sie fast direkt vor meinem Fenster in einem Asphaltloch der Straße. Woher kommen sie? Aus dem Nichts (das glaubst du doch wohl nicht!) vielleicht? Aber in kurzer Zeit hat man sich daran gewöhnt und keinen kümmert es.

Die Freitag- und Samstagnächte sind besonders lebhaft. Die Musik-Bands spielen vor oder in den Lokalen, und auch das schallt weithin; da ja wegen des warmen Klimas die Fenster weit offen stehen, wenn es überhaupt Fensterscheiben gibt. Sie machen Musik bis zwei Uhr nachts. Na, und manchmal ist es nicht nur eine Band, die „über die Stadt“ hin hallt.

Schon um 1.30 in der Nacht – was ja eigentlich schon neuer Tag bedeutet - oder auch etwas später versuchen die ersten Hähne ihre Kumpanen durch Krähen zu wecken. Aber es klappt nicht. Alle machen nicht mit, so bleibt es erst mal bei diesem kurzen Intermezzo.

Ich schrecke auf. War eben eingedämmert. Ein Motorrad knattert durch die Stadt. Kurz vor 3 Uhr. Ich meine, es fährt vor dem Haus vorbei, aber es hört sich nur so an. Man kann förmlich sehen, wie es durch die Straßen mit den niedrigen Häusern saust. Oder braust es etwa über die Dächer?

Kurz bellt ein Hund, als keiner antwortet, hört er auf. Ein paar Frösche quaken, eine Grille versucht es, auch sie hört auf. Es ist wohl nicht die richtige Zeit. Die meisten Stadtbewohner – Mensch und Tier – schlafen.

Ein Mann kommt am Fenster vorbei. Er ruft 4-5 Mal. Meine deutschen Ohren hören ein sehr undeutliches „Hilfe“, ich will schon aufspringen, da fällt mir ein ,dass ich ja in Brasilien bin und wohl keiner in der Nacht auf deutsch „Hilfe“ ruft. Die Leute sprechen hier portugiesisch-brasilianisch, sage ich mir sehr eindringlich und selbst beschwörend. Ich stehe trotzdem auf und schaue durch das offene Fenster.  Immer wieder ruft er: „Irra“? Vielleicht Irrer? Wieder mein deutscher Kopf dazwischen.  Ausgesprochen das Doppel-R wie ein kratzendes, gehauchtes „ch“, das a wie ein kurzes „e“. Ich gucke im Wörterbuch nach. ich finde etwas. Dann würde es „zum Kuckuck“ heißen. Hat er sein Geld verspielt? Hat ihn seine Liebste rausgeschmissen? Hat er sein ganzes Geld für eine Liebesnacht ausgegeben? Zum Kuckuck! Ich weiß es nicht und werde es nie herausfinden!

Um 3.00 Uhr schreit eine Katze, hoffentlich war es nicht ein Hund, der sie gepackt hat und von denen hier sehr viele herumlaufen. Ob die Hunde alle einen Besitzer haben, frage ich mich manchmal. Da es hier viele Hunde gibt, kläffen sie auch bis spät in die Nacht. Ja eben auch bis zum Morgen hin. Immer mal wieder einer oder auch mehrere, und das nicht nur in mondhellen Nächten. Aber du achtest da nicht mehr darauf.

Jetzt beginnen wieder ein paar Hähne zu krähen, es ist bald 3.30 Uhr. Aber es nutzt nichts, der Morgen kommt noch nicht, die anderen Hähne machen nicht mit. Dann nach einer Viertelstunde ein nächster Versuch, wieder nichts.

Es folgt eine Viertelstunde absolute Ruhe, es fällt direkt auf.

Da: Ein Hund jault klagend, hört nicht auf. Hat er einen Tritt von seinem Herrn bekommen und ist auf die Straße geflogen? Oder muss er vor der verschlossenen Tür warten, da sein Herr vergessen hat, ihn wieder hereinzulassen? Ein paar seiner Hunde-Kameraden oder -Kameradinnen antworten. Dann wieder Ruhe. Aber nicht lange.

Mindestens um 4 Uhr morgens kräht dann ein weiterer Hahn sein Kikeriki, und das immer wieder, und nun antworten die anderen Hähne, und nun scheint der rechte Zeitpunkt gekommen zu sein. Ein Chor der Hähne setzte ein. Ein ganzes Heer, wohl an die 40 bespornter Hähne bekämpfen die Dunkelheit der Nacht und setzen sich dafür ein, dass es nun endlich Tag wird. Fast eine Stunde halten sie durch. Das Spektakel verstummt so gen  5.30 Uhr, wenn die Dämmerung einsetzt, dann haben sie es endlich geschafft, den Tag beginnen zu lassen. Einige haben es dann immer noch nicht begriffen, dass es dämmerig geworden ist, und fangen dann nach einiger Zeit wieder an zu krähen. Vielleicht geht es ihnen nicht schnell genug, mit dem Tagwerden und sie haben Hunger.

Schon seit einiger Zeit quaken, man muss schon fast sagen singen die Frösche wieder, in allen Tonhöhen.

Gegen 5 Uhr hörst du auch schon vereinzelt die ersten Bootsmotore der Frühaufsteher, eigentlich sind das viele hier, vom Fluss herauf tuckern, der Luftlinie nur 200-300 m entfernt liegt. Einige Boote knattern verhalten, andere frecher, mit aufgedrehtem Motor. Wie ungedämpfte leichte Fahrradmotore, ohne Auspuff. Es klingt sehr hohl und hell über das  Wasser und über die tiefe Stadt zu mir herüber.

Langsam drehen die Vögel auch auf. Aber das morgendliche Konzert, so wie bei uns, fehlt, das ist später zu hören, wenn es hell ist.

5.30 fern hört man die erste Kirchenglocke. Das erste Auto kommt vorbei, Gott dank gibt es noch nicht so viele davon hier. 6.30 Uhr, der erste Lautsprecherwagen fährt durch die Straßen, macht Reklame oder lädt zu irgendwas ein. Manchmal ist so ein Lautsprecherwagen auch schon früher zu hören. Frühaufsteherland. Aber am Samstag kommen sie erst später, aber umso häufiger. An diesen Tagen hört man besonders brasilianische Rhythmen. Man merkt, dass wir uns der Karnevalzeit nähern. Es geht einem schon in die Seele, der ich doch ein richtiger Karnevalsjeck bin. Ich denke an Erika. Wie oft sind wir auf Karneval  feiern, vor allem tanzen gewesen. Manchmal bis zum frühen Morgen.

Seit dem es hell ist, hörst du auch Menschen auf der Straße, wie sie reden und lachen. Ich sehe sie von meinem Fenster aus, wie sie sich einen Weg durch die nassen und mit Pfützen reichlich versehenen Straßen suchen.

Es ist kurz vor 7 Uhr. Die Kinder gehen zur Schule, die um 7 Uhr beginnt. Frauen bringen ihre Kinder zum Kindergarten. Auch der ist schon so früh auf. Ich kann noch ein wenig schlafen, denn ich gehe meistens erst nach 8 Uhr frühstücken.

An Sonntagen beginnt vor meinen Fenstern lautes, aufgeregtes Kirchengeläut. Alle Viertelstunde ab sieben Uhr, ungefähr dreimal, bis kurz vor dem Gottesdienst um 8 Uhr. Begleitet wird der Glockenklang von Gesängen der Schwestern, man hört auch Kirchengänger darunter, übertragen von Lautsprechern in einer Lautstärke, bei der jeder hier in Deutschland Amok laufen würde. Aber wir sind in Brasilien, von dem man sagt, das es zu 80 bis 90% katholisch ist. Alles in allem eine Einstimmung und Mahnung zugleich, zum Gottesdienst zu kommen. Mir schien, das der erste Gesang von CDs aus gesendet wurde. Der Gesang bricht nämlich plötzlich ab, nun scheint ein Lied aus der Kirche übertragen zu werden.

Es überrascht, wie die Nächte hier verlaufen. Der Gegensatz zu Deutschland fällt auf, wo alles gern kontrolliert wird, wo die Kirchenglocken, die Hähne und Hunde ihre „Sprechstunden“ bekommen, jegliches Schreien der Kinder auf den Spielplätzen wie auch in den Wohnungen am liebste verboten würde; vielleicht sollte die Gentechnik Kinder mit einer Sensorschalttaste  -  wie am Fernsehgerät etwa - und zwar vielleicht hinter den Ohren  züchten, damit man das Schreien, wenn einer genug hat oder wenn Polizeistunde oder Mittagsruhe ist, abstellen kann. Aber vielleicht sollte man die Leute, die solche Geräusche nicht hören wollen, mit solcher Taste versehen, dann können sie sich selbst ausschalten.

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