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Nachts
in Cruzeiro
Nicht
dass hier falsche Erwartungen geweckt werden. Ich werde euch nicht vom
Nachtleben oder von der Liebe in Brasilien bei Nacht erzählen. „In
Kreuzberg sind die Nächte lang...“ In Cruzeiro, wie ihr sehen
werdet, auch. Darum lest weiter, denn die Nächte in Cruzeiro sind
voller Leben.
Die
Nächte sind hier wirklich sehr lang, von ca. 18.30 Uhr bis kurz vor 6
Uhr in der Früh. Und es geht
sehr schnell vom Tag zu Nacht. Eine Dämmerung, wie bei uns, wo es
Stunden dauert, bis es wirklich dunkel ist, gibt es nicht, wo ich
war. In ca. 20 Minuten ist es dunkel.
Zu der
Zeit, als ich da war, waren die Nächte angenehm warm, wie wir uns das
so im Sommer vorstellen und wünschen, und oft, wenn es mondklar
war, hell und romantisch schön. Und bei einer wolkenlosen Nacht
konnte man die Augen nicht vom unendlich großen sternenübersäten
und glitzernden Himmel lösen. Blinkten sie mir zu?
Es
sind die Nächte, in denen die Sehnsüchte wach werden,
Sehnsucht nach Geborgenheit, Liebe, Partnerschaft, jene
heimliche unstillbare Sehnsucht, wie die deutschen Romantiker sie
umschrieben, nach der blauen Blume oder andere mit der
religiösen Sehnsucht nach dem Unbekannten, Geheimnisvollen,
Göttlichen, Unvergänglichen.
Doch
für eine Liebestreffen draußen scheinen die Nächte doch oft weniger
geeignet wegen der Feuchtigkeit und der vielen Viecher, die des Nachts
munter werden und unterwegs sind, wie Stechmücken, Frösche, Kröten,
Küchenschaben, Ameisen. Nicht zu vergessen die vielen winzigen Milben
und Flöhe auf Pflanzen etwa, die nur darauf warten, wenn du durch den
Rasen gehst, an deinen Beinen hochzuklettern, ohne, dass du es merkst.
Zu spät erst, nämlich an den vielen Bissen an den darauffolgenden
Tagen. Besonders unangenehm ist, im Urwald - sowohl am Tage wie in der
nacht - mit ungeschützten Füßen spazieren zu gehen.
Manchmal, wenn du Licht hast, kommt aus dem Dunkeln ein Tier geflogen
und du bist gewaltig erschrocken, aber es war nur eine Heuschrecke. da
ist es schon besser unter dem Moskitonetz.
Auch
die Stadt Cruzeiro selbst bietet einige Überraschungen bei Nacht,
wenn du die Straßen nicht kennst und dir eine Taschenlampe fehlt,
nämlich die Kanallöcher oder Straßenschäden oder
die Pfützen.
Wenn
es dunkel wird in Cruzeiro, entwickelt die Stadt eine eigenartige
Akustik. Sie wird hellhörig. Der Schall verlagert sich, scheint über
der Stadt zu schweben, zu hallen wie in einem großen Saal. Es fehlen
die hohen Häuser und die hohen Bäume, die den Schall dämpfen.
In
den ersten Tagen, besonders am ersten Wochenende, fiel mir auf, dass
man draußen einsame langgezogene Rufe hörte. Ich habe erst gedacht,
es sei ein untröstlicher Liebhaber, der vor dem Haus seiner Liebsten
oder vor dem Haus ihres neuen Liebhabers steht, wo sie gerade weilt,
und seine schmachtenden und verzweifelten Klagen hinaus ruft. Es war
manchmal etwas unheimlich. Welch ein Land, dachte ich, und mir kamen
Romeo und Julia in den Sinn, obwohl die ja sicher nicht wolfsartig
geklagt haben.
Doch
das geheimnisvolle Rufen fand dann in den nächsten Tagen, als ich nun
Näheres wissen wollte und umherfragte, eine sehr schlichte Erklärung.
Es sind Verkäufer, die hier in Kunststoffbehältern allerhand zum
Essen, das in Eisblöcke gegen die Hitze gepackt, lauthals anbieten,
von Bananen bis zu eingepackten gekochten Nudeln. usw. Ihre
langgedehnten Rufe, schallen, besonders wenn es etwas ruhiger in den
Straßen wird, also in der Nacht
weithin. Ja, und dann kam eben meine Fantasie dazu...
Wenn
es dunkel ist, hört keineswegs das Leben in Cruzeiro auf. Die Kinder
spielen draußen, manchmal bis 22 oder 23 Uhr auf der Straße bei Straßenlaternenlicht.
Das soll verboten sein, dass Kinder noch so spät auf der Straßen
sind, wegen der Gefahr der Kinderprostitution, die hier wohl sehr
stark ist und eine große Dunkelziffer hat, aber wen kümmert es. Man
hört bis in die späten Abendstunden Hämmern und Klopfen. Viele bauen ihr Haus oder erweitern es abends, wenn sie von der Arbeit
wieder zurück sind, bei Lampenschein. Manchmal hör ich den Bäcker,
der nebenan wohnt, abends um 21.00, manchmal 22.00 Uhr und später sein
Holz mit der Axt klein schlagen. Dieser Bäcker heizt seinen großen
Backofen mit Holz! Und dafür zerkleinert er oder sein Gehilfe die
Holzklötze - mächtige Holzklötze sind das, du kannst es dir kaum
vorstellen -, die angeliefert und vor dem Haus abgeladen wurden. Da
haben die Bäckerleute schon ein ordentliches Pensum am Tag zu
schaffen, wenn der Brotofen den ganzen Tag über mit Holz geheizt
werden soll, denn es war keine kleine Bäckerei, und sie backten nicht
nur kleine Brötchen.
Bis
in die Nacht hinein hörst du jeden Tag die Grillen. Die Frösche, die
schon mal am Nachmittag um 15 Uhr ihr vielstimmiges Konzert begannen,
sind sehr ausdauernd und quaken bis23 – 24 Uhr in der Nacht.
Besonders an den Tagen, wo es sehr feucht ist, sitzen sie fast direkt
vor meinem Fenster in einem Asphaltloch der Straße. Woher kommen sie?
Aus dem Nichts (das glaubst du doch wohl nicht!) vielleicht? Aber in
kurzer Zeit hat man sich daran gewöhnt und keinen kümmert es.
Die
Freitag- und Samstagnächte sind besonders lebhaft. Die Musik-Bands
spielen vor oder in den Lokalen, und auch das schallt weithin; da ja
wegen des warmen Klimas die Fenster weit offen stehen, wenn es überhaupt
Fensterscheiben gibt. Sie machen Musik bis zwei Uhr nachts. Na, und
manchmal ist es nicht nur eine Band, die „über die Stadt“ hin
hallt.
Schon
um 1.30 in der Nacht – was ja eigentlich schon neuer Tag bedeutet -
oder auch etwas später versuchen die ersten Hähne ihre Kumpanen
durch Krähen zu wecken. Aber es klappt nicht. Alle machen nicht mit,
so bleibt es erst mal bei diesem kurzen Intermezzo.
Ich
schrecke auf. War eben eingedämmert. Ein Motorrad knattert durch die Stadt. Kurz vor 3 Uhr.
Ich meine, es fährt vor dem Haus vorbei, aber es hört sich nur so
an. Man kann förmlich sehen, wie es durch die Straßen mit den
niedrigen Häusern saust. Oder braust es etwa über die Dächer?
Kurz
bellt ein Hund, als keiner antwortet, hört er auf. Ein paar Frösche
quaken, eine Grille versucht es, auch sie hört auf. Es ist wohl nicht
die richtige Zeit. Die meisten Stadtbewohner – Mensch und Tier –
schlafen.
Ein
Mann kommt am Fenster vorbei. Er ruft 4-5 Mal. Meine deutschen
Ohren hören ein sehr undeutliches „Hilfe“, ich will schon
aufspringen, da fällt mir ein ,dass ich ja in Brasilien bin und wohl
keiner in der Nacht auf deutsch „Hilfe“ ruft. Die Leute sprechen
hier portugiesisch-brasilianisch, sage ich mir sehr eindringlich und selbst beschwörend. Ich
stehe trotzdem auf und schaue durch das offene Fenster. Immer wieder
ruft er: „Irra“? Vielleicht Irrer? Wieder mein deutscher Kopf
dazwischen. Ausgesprochen das Doppel-R wie ein kratzendes, gehauchtes
„ch“, das a wie ein kurzes „e“. Ich gucke im Wörterbuch nach.
ich finde etwas. Dann würde es „zum Kuckuck“ heißen. Hat er sein Geld verspielt?
Hat ihn seine Liebste rausgeschmissen? Hat er sein ganzes Geld für
eine Liebesnacht ausgegeben? Zum Kuckuck! Ich weiß es nicht und werde
es nie herausfinden!
Um
3.00 Uhr schreit eine Katze, hoffentlich war es nicht ein Hund, der
sie gepackt hat und von denen hier sehr viele herumlaufen. Ob die
Hunde alle einen Besitzer haben, frage ich mich manchmal. Da es hier
viele Hunde gibt, kläffen sie auch bis spät in die Nacht. Ja eben
auch bis zum Morgen hin. Immer mal wieder einer oder auch mehrere, und
das nicht nur in mondhellen Nächten. Aber du achtest da nicht mehr
darauf.
Jetzt
beginnen wieder ein paar Hähne zu krähen, es ist bald 3.30 Uhr. Aber
es nutzt nichts, der Morgen kommt noch nicht, die anderen Hähne
machen nicht mit. Dann nach einer Viertelstunde ein nächster Versuch,
wieder nichts.
Es
folgt eine Viertelstunde absolute Ruhe, es fällt direkt auf.
Da:
Ein Hund jault klagend, hört nicht auf. Hat er einen Tritt von seinem
Herrn bekommen und ist auf die Straße geflogen? Oder muss er vor der
verschlossenen Tür warten, da sein Herr vergessen hat, ihn wieder
hereinzulassen? Ein paar seiner Hunde-Kameraden oder -Kameradinnen
antworten. Dann wieder Ruhe. Aber nicht lange.
Mindestens
um 4 Uhr morgens kräht dann ein weiterer Hahn sein Kikeriki, und das
immer wieder, und nun antworten
die anderen Hähne, und nun scheint der rechte Zeitpunkt gekommen zu
sein. Ein Chor der Hähne setzte ein. Ein ganzes Heer, wohl an die 40
bespornter Hähne bekämpfen die Dunkelheit der Nacht und setzen sich
dafür ein, dass es nun endlich Tag wird. Fast eine Stunde halten sie
durch. Das Spektakel verstummt so gen 5.30 Uhr, wenn die Dämmerung
einsetzt, dann haben sie es endlich geschafft, den Tag beginnen zu
lassen. Einige haben es dann immer noch nicht begriffen, dass es dämmerig
geworden ist, und fangen dann nach einiger Zeit wieder an zu krähen.
Vielleicht geht es ihnen nicht schnell genug, mit dem Tagwerden und
sie haben Hunger.
Schon
seit einiger Zeit quaken, man muss schon fast sagen singen die Frösche wieder, in allen Tonhöhen.
Gegen
5 Uhr hörst du auch schon vereinzelt die ersten Bootsmotore der Frühaufsteher,
eigentlich sind das viele hier, vom Fluss herauf tuckern, der
Luftlinie nur 200-300 m entfernt liegt. Einige Boote knattern
verhalten, andere frecher, mit aufgedrehtem Motor. Wie ungedämpfte
leichte Fahrradmotore, ohne Auspuff. Es klingt sehr hohl und hell über
das Wasser und über die tiefe Stadt zu mir herüber.
Langsam
drehen die Vögel auch auf. Aber das morgendliche Konzert, so wie
bei uns, fehlt, das ist später zu hören, wenn es hell ist.
5.30
fern hört man die erste Kirchenglocke. Das erste Auto kommt vorbei,
Gott dank gibt es noch nicht so viele davon hier. 6.30 Uhr, der erste
Lautsprecherwagen fährt durch die Straßen, macht Reklame oder lädt
zu irgendwas ein. Manchmal ist so ein Lautsprecherwagen auch
schon früher zu hören. Frühaufsteherland. Aber am Samstag kommen
sie erst später, aber umso häufiger. An diesen Tagen hört man besonders
brasilianische Rhythmen. Man merkt, dass wir uns der Karnevalzeit nähern.
Es geht einem schon in die Seele, der ich doch ein richtiger
Karnevalsjeck bin. Ich denke an Erika. Wie oft sind wir auf
Karneval feiern, vor allem tanzen gewesen. Manchmal bis zum frühen Morgen.
Seit
dem es hell ist, hörst du auch Menschen auf der Straße, wie sie
reden und lachen. Ich sehe sie von meinem Fenster aus, wie sie sich
einen Weg durch die nassen und mit Pfützen reichlich versehenen Straßen
suchen.
Es
ist kurz vor 7 Uhr. Die Kinder gehen zur Schule, die um 7 Uhr beginnt.
Frauen bringen ihre Kinder zum Kindergarten. Auch der ist schon so
früh auf. Ich
kann noch ein wenig schlafen, denn ich gehe meistens erst nach 8 Uhr
frühstücken.
An
Sonntagen beginnt vor meinen Fenstern lautes, aufgeregtes Kirchengeläut.
Alle Viertelstunde ab sieben Uhr, ungefähr dreimal, bis kurz vor dem Gottesdienst um
8 Uhr. Begleitet wird der Glockenklang von Gesängen der Schwestern,
man hört auch Kirchengänger darunter, übertragen von Lautsprechern
in einer Lautstärke, bei der jeder hier in Deutschland Amok laufen würde.
Aber wir sind in Brasilien, von dem man sagt, das es zu 80 bis 90%
katholisch ist. Alles in allem eine Einstimmung und Mahnung zugleich,
zum Gottesdienst zu kommen. Mir schien, das der erste Gesang von CDs
aus gesendet wurde. Der Gesang bricht nämlich plötzlich ab, nun
scheint ein Lied aus der Kirche übertragen zu werden.
Es
überrascht, wie die Nächte hier verlaufen. Der Gegensatz zu
Deutschland fällt auf, wo alles gern kontrolliert wird, wo die
Kirchenglocken, die Hähne und Hunde ihre „Sprechstunden“
bekommen, jegliches Schreien der Kinder auf den Spielplätzen wie auch
in den Wohnungen am liebste verboten würde; vielleicht sollte die
Gentechnik Kinder mit einer Sensorschalttaste - wie am
Fernsehgerät etwa - und zwar vielleicht hinter den Ohren züchten, damit man das Schreien,
wenn einer genug hat oder wenn Polizeistunde oder Mittagsruhe ist, abstellen kann.
Aber vielleicht sollte man die Leute, die solche Geräusche nicht
hören wollen, mit solcher Taste versehen, dann können sie sich
selbst ausschalten.