1. Mein
Vater
Mein Vater, der
spät heiratete, immerhin mit fast 38 Jahren, war bei meiner Geburt gut 51
Jahre alt. "Dann hast du aber einen alten Vater in deiner Jugendzeit
erlebt, " hör ich schon manchen von euch sagen. Er war ein reifer
Mann, aber alt? Wenn man damit einen langsamen Niedergang der Kräfte verbindet,
dann traf das für meinen Vater nicht zu.
Interessanterweise habe ich nie wahrgenommen oder
bedauert, dass ich keine Großeltern beiderseits hatte. Vielleicht konnte
mein Vater diese wegen seines Alters mit ersetzen.
Dass mein Vater alt war, habe ich nie
wahrgenommen. Er war auch im Alter noch zu Scherzen aufgelegt und kräftig, aber
schlank. Man muss bedenken, dass mein Vater mit 80 noch auf der Leiter
stand und mit Freude die Wände unseres Hauses - von Erika und mir - tapezierte. Noch mit 85 Jahren bestellte er
seinen Garten und benutze die Schubkarre - eine alte hölzerne, unmoderne - für seine Arbeit. Jede handwerkliche
Arbeit, die er kannte, führte er durch. Und er konnte eigentlich alles - er
baute ja auch noch mit 73 Jahren ein Haus -, ohne
dass ich hier in
eine übliche Kindeshaltung verfalle, die dem Vater eine gewisse göttliche Allmacht
andichtet.
Dass ich gewissermaßen für meinen
Bruder als Überraschung zum 13. Geburtstag diente, das war natürlich
besondere Maßarbeit meiner Eltern. Meine Mutter
hatte eine Hausgeburt gemacht und keiner der Kinder hatte gesehen noch
gewusst, dass ich unterwegs war.
2. Winfried Kerkhoff
Mein Geburtstag
So könnte sich der Tag meiner Geburt abgespielt
haben. Meine älteste Schwester berichtete davon.
Ich
wurde als fünftes Kind im Mai geboren. Keins der vier Geschwister hatte
eine Ahnung, dass da ein dicker Maikäfer im Anflug war. Am 9.5.1934.
„Du lügst!“, krähte
die jüngste Schwester des Neugeborenen, gerade vier Jahr, als das
Kindermädchen sie zu überzeugen versuchte, dass sie ein Brüderchen habe.
Die Kleine rannte aus dem Zimmer, ehe das Kindermädchen sie aufhalten
konnte.
„Mama, Mama!“ rief
sie und riss die Tür zum Elternschlafzimmer auf. „Pssst!“, wollte das
Kindermädchen mahnen, aber sie konnte den Wirbelwind nur noch in Empfang
nehmen, als er schluchzend aus dem Elternzimmer zurückkam.
„Wo ist Mama?“,
fragte die Kleine. „Ist kein Baby“, kam sofort hinterher. Das
Kindermädchen nahm die Kleine an die Hand und schob sie ins
Herrenzimmer, das für die Geburt des neuen Kindes hergerichtet worden
war. Die Kleine blieb in der geöffneten Tür stehen. Das Zimmer war so
verändert!
Es dauerte eine
Weile, ehe sie sich zurecht fand. Dann stürzte sie auf ihre Mutter, die
in einem Bett lag und einen Korb auf Rädern neben sich hatte.
Gegen Mittag kamen
die beiden anderen Schwestern, acht und zwölf aus der Schule, beide
ebenfalls ahnungslos. Als sie darüber aufgeklärt wurden, dass sie ein
Brüderchen bekommen hatten, wehrten sie ab: „Das kann nicht sein!“
Ungläubig gingen sie
in das Geburtszimmer. Klein war das Baby in dem Korb! Ihre Mutter
schaute blass, aber glücklich aus, sie nahm die beiden in die Arme und
zeigte auf das Brüderchen: „Schaut es nicht niedlich aus?“, fragte sie.
Als beide das kleine Brüderchen vorsichtig streichelten, zeigte ihre
jüngste Schwester, die die ganze Zeit schon neben dem Bettchen gestanden
hatte, mit dem Finger auf den Erdenneuling: „Meins!“ sagte sie lächelnd,
aber bestimmt.
Unvorbereitet war
auch der Älteste der Kinder, als er aus der Schule kam. Er feierte heute
selbst seinen Geburtstag. Er wurde 13 Jahre. Wie die anderen nahm er die
Nachricht überrascht, aber sichtlich erfreut auf. Seine Freude über
einen Bruder hörte man deutlich aus seinen Worten heraus. „Wenn ich groß
bin, nehme ich den mit aufs Fahrrad!“, verkündete er an der Wiege seinen
Schwestern, die sich von dem neuen Bruder gar nicht trennen mochten.
Seine Mutter vergaß
keineswegs ihrem Ältesten herzlich zu gratulieren. Genau heute vor 13
Jahren hatte sie ihm das Leben geschenkt, mit 24 Jahren. Wie viele
Windeln sie wohl seitdem gewaschen hatte, schoss es ihr durch den Kopf.
Pampers gab es damals noch nicht. Auch wenn sie damals schon zu kaufen
gewesen wären, hätten die Eltern dafür kein Geld gehabt.
Der Vater der Familie saß währenddessen über seinen
Akten im Büro der Landwirtschaftskammer Münster. Um sechs Uhr heute in
der Früh war sein zweiter Sohn geboren worden. Er hatte nicht lange bei
seinem neugeborenen Kind und seiner Frau bleiben können. Wie dankte er
Gott, dass alles so glimpflich verlaufen war. Nach der Sturzgeburt der
jüngsten Tochter, dem vierten Kind, war seine Frau ein halbes Jahr
einseitig gelähmt geblieben, aus unerklärlichen Gründen, aus ebenso
unerklärlichen Gründen war sie wieder zum Laufen gekommen. Oder war es
doch nicht so unerklärlich? Die jüngere Schwester seiner Frau, die bei
ihnen jahrelang bemuttert worden war, war kurz vor der Geburt der
jüngsten Tochter nach langer Krankheit - langjährige Lungentuberkulose
mit Aufenthalt im Krankenhaus zuletzt - gestorben.
Über 51 Jahre war er
nun, erst mit 37 hatte er geheiratet.
Als er
im Büro von der Geburt seines jüngsten Sohnes berichtete, gratulierten
alle, und alle lachten, als er hinzufügte, dass der jüngste Sohn gerade
zur rechten Zeit gekommen sei, da sein ältester Sohn heute auch
Geburtstag und somit sein Geschenk schon bekommen habe.
Wo ich geboren bin
Nach
der Erinnerung meiner ältesten Schwester sah das Zimmer, das
Herrenzimmer, wo ich geboren
wurde, z. Z. der Geburt folgendermaßen aus: unten klicken! Meine Mutter
entband alle Kinder zu Hause. Natürlich waren in "normalen" Zeiten Bett
und Körbchen (Wiege) nicht im Zimmer.
Der Tisch in der Mitte war schwarz. Wir hatten ihn
später auch noch. Auch den Bücherschrank. Darin lagen die "Stadt
Gottes". eine Zeitschrift des Steyler Ordens, deren
Fortsetzungsromane von mir, nachdem ich lesen gelernt hatte, sehr
begehrt waren. Das war aber auf der Leerer Str. Meine Schwester
Cissi - die älteste - berichtete, hinter dem Bücherschrank und hinter
dem Schreibtisch konnte man sich gut verstecken.
Hier nun der Wohnungsplan
Vergrößern der Wohnung: 1.
in der Mitte des Planes klicken!
Vergrößerung des Geburtszimmers: Im Herrenzimmer klicken°
Die Wohnung der nunmehr siebenköpfigen Familie
lag in Münster auf der Kronnprinzenstr. 28. Die Wohnung war sehr groß.
In dieser Wohnung wurde nicht nur ich, auch meine
jüngste Schwester geboren, bei der meine Mutter eine Spontanlähmung
erlitt - ein halbes Jahr lang. Drei Kinder hatten wir schon. Wir wohnten hier von 1929 bis 1936.
Im 5. Stock. 101 oder 94 Stufen (meine Schwester waren sich nicht einig)
waren zu überwinden. Meine
Schwester Beatrix wurde 1930, ich 1934 geboren. Zur Taufe gab es als Nachtisch
Götterspeise - grün - mit Sahne, auch zur Erstkommunion. Meine älteste
Schwester berichtete, dass sie meinen Po unter kaltem Wasser in dem
Waschbecken auf der
Toilette gereinigt
hat.
In dem langen Flur war eine Schaukel mit Sitz,
Ringen und Schwungstange angebracht. Hier feierte mein Vater mit uns
Kindern das Lambertusfest. Platz war ja genug da.
Damit der Lärm nicht so sehr in der
unteren Wohnung zu hören war, hatten meine Eltern den Flur mit einem Kokosteppich
ausgelegt. Die Familie, die im Stock darunter wohnte, hat sich oft über
den Lärm der Kinder beklagt. Ob mit Recht oder zu Unrecht, das kann ich
nicht beurteilen, jedoch haben meine Eltern oft ihre häufigen Umzüge mit
dem Ansteigen der Mieten und mit dem von den Nachbarn beklagten Kinderreichtum
begründet. So wohnten wir nach der Kronprinzenstr, ein Jahr auf der
Steinfurter Str. (1937) - dort lernten meine drei Schwestern Rollschuhlaufen
auf dem breiten Bürgersteigen - und 1938 auf der Hochstr. Ende 1938
waren wir schon in die Leererstr. 2 umgezogen. Dort wohnten wir, bis wir 1943 im Krieg nach
Burgsteinfurt umsiedelten.
Mein Vater war ein fleißiger Mann, der jeden
Morgen, ehe er zum Büro ging, den großen Flur auf der Kronprinzenstraße
reinigte. Mit Teppichkehrer und Mopp.
Ich bin ca. 2 Jahre
Offenkundige oder versteckte Kinderkrankheiten – wer kennt sich schon da
aus? Im Fall von Scharlach sprechen Ärzte heute von verschiedenen
Verursacherstämmen, so dass man diese Erkrankung mehrmals und auch nicht
nur in der Kindheit bekommen kann.
Ich
wurde vom Scharlach befallen, als ich zwei war. In den dreißiger Jahren
durfte man nicht zu Hause bleiben, aber man bekam Scharlach in der Regel
nur ein Mal. Ich kam in das münstersche Franziskus-Hospital. Sechs lange
Wochen musste ich dort auf der Isolierstation bleiben. Nicht leicht für
die Eltern, eine solch lange Trennung durch zu stehen.
Besonders ich hatte eine schwere Zeit. Zuerst die Trennung von Eltern und
die Einweisung in die fremde Welt des Krankenhauses. Und dann die
Rückgewöhnung ins Elternhaus.
Mein
Vater holte mich wieder ab. Kaum hatten sie sich von der Stationsschwester
– damals noch Klosterfrauen - verabschiedet und die Krankenhaustür
geschlossen, begann ich, der Kleine, zu quengeln: „Svester! Zu
Svester!“
Da
half Trösten nicht sofort. Als Franziska, meine älteste Schwetse, am
nächsten Morgen wach wurde, hörte sie im Elternschlafzimmer, mich, den
Bruder, schon in der Früh knüttern: „Will zu Svester!“ So dauerte es Tage,
bis ich mich wieder in der Familie heimisch fühlte. Ich selbst erinnerte
mich nicht an dieses Ereignis. Dank der liebevollen Aufnahme im
Krankenhaus und der herzlichen Umsorgung in der Familie hatte ich die Zeit
wohl ohne sichtbaren psychischen Schaden überstanden.
Eine Fahrt nach Koblenz
Winfrieds erste große Reise ging an den Rhein. Bislang war er nur
innerhalb von Münster herumgekommen. Sein Vater hatte ihn ja oft auf dem
Fahrrad mit zum Schrebergarten mitgenommen. Gut konnte er sich noch an die
vielen und großen Gärten „Sonnenschein“ in Lütkenbeck erinnern, wo sie
Hühner und Kaninchen hatten. Mit seiner Mutter und Geschwistern war er zu
Weihnachten in den Münsterschen Kirchen gewesen und die Krippen bewundert.
Die
Reise nach Koblenz im Sommer 1939 war voller Neuigkeiten. Er war jetzt
fünf und reiste mit seiner großen Schwester Cissi zu ihrem Onkel Ernst,
einem Bruder ihrer Mutter. Cissi war wirklich schon eine große Tochter mit
ihren 16 Jahren. Für Winfried war das sehr in Ordnung, dass er ohne Mutter
fuhr. Seine Schwester schien ihm so erwachsen und wie eine
Stellvertreter-Mutter. Sie musste als ältestes Mädchen in der Familie der
Mutter helfen und trug auch schon viel Verantwortung für die kleinen
Geschwister.
Für
Winfried war die Fahrt mit dem Zug schon eine Aufregung. Die erste und
sogleich weite Zugfahrt. Er musste schon bei der Ankunft feststellen, dass
einen Hügel zu erklimmen anstrengend war, denn der Onkel Ernst und seine
Frau, Tante Änne, bewohnten mit der Tochter Margot ein kleines Eigentum
auf einer sehr steilen Anhöhe in Pfaffendorf, das ein Teil von Koblenz
war.
Er
sah den Rhein und die Mündungsstelle der Mosel aus der Höhe, fast niedlich
anzusehen, konnte zugleich beim Baden im Strandbad feststellen, dass die
Flüsse aus naher Sicht mächtige Ausmaße hatten. Ein strahlender Sonntag
mit einem Rhein, in dem man gut plantschen konnte, noch ohne
Belastungsstoffe.
Onkel Ernst erinnerte ihn in Gestalt und Gehabe an den Vater, Tante Änne
war rundlich und erdrückte ihn fast mit ihrer mütterlichen und rheinischen
Überschwänglichkeit. Sie hatten eine Tochter Margot, die dem Jungen im
Vergleich zu seiner Schwester ziemlich dick vorkam.
Da
war noch eine Verwandte der Tante Änne im anliegenden Doppelhaus mit einem
jüngeren Jungen, der Keuchhusten hatte. Winfried musste sich fernhalten,
wurde auch nicht angesteckt, Impfstoff gab es zur damaligen Zeit nicht,
wäre auch zu spät für diesen Besuch gewesen. Aber die Hustenanfälle, die
oft in Erstickunganfälle endeten, waren so eindrucksvoll und beängstigend,
dass Winfried von selbst Abstand hielt, um nicht angesteckt zu werden.
Winfried erinnert sich sehr gut, dass von einem bevorstehenden Krieg die
Rede war, obwohl er sich nicht viel darunter vorstellen konnte. Es musste
jedoch etwas Schlimmes und Furchterregendes sein. Viele neue Eindrücke für
einen Jungen aus dem Münsterland.
Sehr
gut erinnerte sich, dass nach der Heimfahrt der Kolonialwarenhändler, der
seinen Eltern regelmäßig Nahrungsmittel brachte, das Thema Krieg auch hier
kurz diskutiert wurde. Übrigens bestand zwischen dem Händler und meinen
Eltern ein gutes und freundschaftliches Verhältnis, das wohl schon länger,
also schon vor dem Umzug in die Leerer Straße bestand. Es war Herbst 1939.
Danach brach der Krieg bald aus.
Spitznamen
Ich glaube, dass Lehrer besonders unter Spitznamen zu
leiden haben. In den unteren gymnasialen Klassen - der 2. Weltkrieg war schon
vorüber - hatten wir einen
schnauzbärtigen Deutschlehrer. Er hieß bei uns Stalin, aber nur heimlich, und
dennoch erfuhr er davon. Er war tiefbetrübt.
Bei ihm lernte ich Deutsch, wirklich. Er gab uns ein Regelwerk mit auf den
Lebensweg, dass ich bis heute noch kenne. Ich glaube, dass mir - vielleicht als
einzigem in der Klasse, diese Regeln zu lernen großen Spaß machte. Ich
beherrschte sie auch aus dem ff. Ich kam auch deswegen oft im Unterricht dran.
Aber immer dann, wenn keiner der Schüler mehr weiterwusste. Unser Deutschlehrer
leitete den Moment, wenn er mich aufrufen wollte, immer mit folgenden Worten
ein: "Dann wollen wir mal unseren abgebrochenen Riesen dran nehmen" und er
zeigte ein unheimlich bezwingendes und wohlwollendes Lächeln. Vielleicht war es
diese mimische Verbindung mit seinen Worten, dass aus diesen doch nicht gerade
angenehmen Worten nie ein Schimpfwort oder Spitzname für mich wurde; denn ich
war für mein Alter wirklich sehr klein, der kleinste und schwächste unter meinen
Klassenkameraden. Und mir war bei den Worten nicht wohlig. Ob er das gemerkt
hatte? Denn ich bekam bald einen neuen Namen. Nun rief er mich mit "Unser
kleines Mäuschen" auf. Der Name blieb mir nach anfänglichen
Anlaufschwierigkeiten erhalten, zwar in einer Abwandlung. Noch kurz vor dem
Abitur - damals war ich 21 Jahre - tauchte er noch einmal auf: als Mausi. Eine
Freundin meiner Freundin Erika rief es lauthals über die Straße. Mit
diesem Namen konnte ich mich arrangieren. dieser Name war aber begrenzt auf
meinen Wohnort.
Womit ich mich nicht arrangieren konnte, war, dass einige ältere
Jungen in der Messdienerzeit mich "Zwerg Nase" - wenn auch nicht bösartig -
nannten. Darüber ärgerte ich mich schon mächtig und war froh, dass diese
Bezeichnung keinen Anklang fand.
Parallel entwickelte sich ein anderer, fast
gegensätzlicher Spitzname. Mit 14 Jahren hatte ich großes Interesse für
Indianer, wilder Westen - wie viele Jungen damals - und ich las, "was das Zeug
hielt". Ich saß aber auch an der Quelle; denn mein Vater leitete die
Borromäus-Bibliothek. So waren mir alle Werke, die dort zu lesen waren,
zugänglich: Der Lederstrumpf, Der letzte Mohikaner. Ich las 63 der
Karl-May-Bücher. Ich baute in unserem Garten eine Holzhütte - da begann mich ein
entfernter Verwandter, der ca. 10 älter war, gelegentlich Winnetou zu nennen.
Ich weiß es noch genau. Als ich dann nach ca. 1 1/2 Jahren Aufenthalt in einem
klösterlichen Internat (St. Arnold, Steyler Orden) mit täglich stundenlangem
Sport einen starken körperlichen Entwicklungsschub gemacht hatte und mich
anschließend stark in der Jugendarbeit einsetzte, tauchte der Name Winnetou
wieder auf und blieb mir viele Jahre erhalten. Wenn in der Jugendarbeit nächtliche Wanderungen
stattfanden, scharten sich die Jungen um mich, wenn es beim nächtlichen Wachen
am Feuer unheimlich im Walde knackte, dann musste ich ran. Oft hörte ich: "Ich
bleib bei Winnetou!" In seiner Nähe fühlte man sich sicher.
Nach 1949
Ich tat viel für ein gutes Muskelprofil und hörte ganz
gern, wenn meine Schwiegermutter mir später assistierte, dass ich Fußballerbeine
habe und meine Frau auf meine Brustmuskel hinweisend ein bisschen spottete:
"Bald benötigst du einen BH". Sie hatte nicht ganz Unrecht; ich machte
zu der Zeit jeden Tag ca. 45 Liegestützbeugen, eben so lange wie ich
konnte. Vor meinem Bett.
Schlussball - Erinnerungen
In meinem Leben war das Jahr 1953 ein Zeitpunkt,
der – rückschauend - meiner Zukunft eine bestimmte Richtung gab.
Zunächst schien das lebensbestimmende Ereignis gar nicht
auffallend.
Ich war im vorausgehenden Jahr 18 geworden und
meine Schwestern, besonders die älteste mit Namen Cissi, machten
meinen Eltern klar, dass es an der Zeit war, dass ich einen
Tanzkurses mitmachte. Es war in Burgsteinfurt, dort wohnten wir,
bekannt, dass die Mädchen-Realschule junge Männer suchte für
einen Tanzkurs, der in der Regel ein Jahr vor dem
Mittelschulabschluss stattfand. Auch meine Eltern kamen zu dem
Entschluss, dass es eine gute Gelegenheit war, dieses Angebot zu
nutzen.
Dass ich
begeistert war, kann ich gerade nicht sagen.
Ob meine
Geschwister jemals einen Tanzkurs teilnahmen, weiß ich nicht.
Damals interessierte es mich auch nicht, es zu erfahren. Ich war
seit 1950 Schüler des Rheiner Gymnasiums und hörte von meinen
Mitschülern, dass der eine oder andere von einem Tanzkurs in
Rheine oder Umgebung sprach. Aber Neugierde hatten deren
Erfahrungen bei mir nicht geweckt.
>Weiter
Mein
Motorrad
Ein Motorrad bekam ich sehr spät. Ich war schon Witwer.
Mir ging es wie anderen auch, die ich kennen lernte. Sie wurden
Rentner/Pensionär oder Witwer und wollten nun mit einem Motorrad in die Welt.
Meine Motorradprüfung machte ich schon, als ich Student
auf der PH (Pädagogische Hochschule - so hieß das früher) in Münster war. Also
1955-1957. Ich erfuhr damals, dass man als Student preiswert einen
Führerschein dafür machen könne. Also meldete ich mich in der Fahrschule an. Ich
hatte ein paar Stunden Theorie, wurde ins Motorradfahren eingewiesen und
schon musste ich fahren. Hinter dem Auto, in dem der Fahrlehrer saß. Ich glaube
die dritte Fahrt war schon die Prüfung. Im März 1957, ich war noch Student an
der PH Münster. Ich bestand sie. Ich hatte einen Schein - aber kein Motorrad.
Sommer 1957 wurde ich in Wettringen als Volksschullehrer
angestellt. Ich hatte weder ein Fahrzeug, damit ich von dort wegkam; nur mein
Fahrrad, das ich sehr liebte. Ich hatte es schon Jahre. Mit meinem Vater hatte
ich es aus Einzelteile nach dem Krieg - also 1946 - zusammengebaut. Es wurde von mir knallrot
angestrichen. Das Fahrrad war in Wettringen das einzige
Fortbewegungsmittel, das ich hatte. Oft fuhr ich mit dem Fahrrad durch die
Bauernschaften und noch damalige Heide nach Burgsteinfurt, um meine Freundin zu
besuchen. Meine spätere Frau.
Das Mofa
Von meiner Schwester Beate erbte ich ein Mofa. Meine
Schwester war auch Volksschullehrerin und hatte die Prüfung zwei Jahre früher
als ich in Münster gemacht. Ich war überglücklich. Denn meine Erika war mit der
Familie nach Rheine gezogen. Mit dem Mofa fuhr ich nun nach Rheine, sie
besuchen. Auch Fleisch, das mir Erikas Mutter vom Schlachthof besorgte, brachte
ich dann für die große Dogge Britta mit, die ich damals schon hatte. Sie
wohnte in einem Zwinger in meinem zukünftigen Garten in Wettringen,
Meine Schwester hatte sich diese Mofa gekauft, um von
ihrer Arbeitsstelle in Emsdetten nach Münster zu fahren, wo meine Eltern in
Kinderhaus wohnten. Sie blieb auch dort über Sonntag. Meine Schwester war nach
ihrer 1. Lehrerprüfung, 1955, zunächst Lehrerin in Schermbeck. Wurde dann auf Antrag nach Emsdetten
versetzt, weil unsere Eltern alt waren und Hilfe brauchten. Lange hielt sie das
Fahren mit dem Mofa nicht aus und kaufte sich ein gebrauchtes Auto - meine
Eltern gaben ihr Geld zum Kauf. Und ich bekam das Mofa! Ich war überglücklich.
Ich nutzte die Gelegenheit nach Rheine sehr. Im Sommer und Winter.
Im Winter hatte ich meinen Motorrad-Overall mit vielen
Zeitungen gegen den kalten Wind gepolstert. Wenn es geschneit hatte, fuhr ich
die Füße rechts und links fast auf der Straßenteerdecke, damit ich beim Rutschen
mich abfangen konnte. Nun muss man sagen, dass der Verkehr damals noch lange
nicht so intensiv wie heute war. Manchmal fuhr ich kilometerweit allein auf der
Straße durch den tiefen, gefurchten Schnee.
Heinkelroller
Gelegenheit zum Motorradfahren bekam ich dann in
Wettringen, ab 1957, als mein Kollege F. Hakvoort mir seinen Heinkelroller lieh.
Ab 1957 war ich Lehrer in Wettringen, wohin ich dann Dez. 1958 mit Erika zog, da
wir ab diesem Datum dort wohnten. Für Fahrten nach Münster, um meine Eltern in M.-Kinderhaus
zu besuchen, reichte das Mofa, solange ich noch Junggeselle war. Als ich dann
mit Erika - Dez. 1958 - in Wettringen wohnte, fuhr ich öfter mit dem Roller, da mein Kollege sich ein Auto gekauft hatte.
Hinter mir auf dem Sociussitz saß dann immer Erika.
Manches Mal lieh mir mein Haus-Nachbar in Wettringen, ein netter
Sozialarbeiter seine Isetta für eine Besuchsfahrt, nachdem ich den Führerschein
gemacht hatte: Mitte 1957.
Meine Yamaha 125 ccm
Fast geköpft
Mit dem Motorrad verbinden sich zwei Gedanken, die ich nie
vergessen werde. Ein Ereignis am Bahnübergang und eine Fahrerflucht, ein
Fastunfall und ein wirklich schlimmer Unfall.
Ich nutzte den Heinkel-Roller meines Kollegen Hakvoort
schon öfter. ich war sehr dankbar dafür, sonst wäre ich ja nie nach Münster zu
meinen oder Erikas Eltern gekommen, besonders da ich ja immer meine Erika - seit
Ostern 1957 waren wir verlobt -, wenn ich dorthin fuhr, mitnahm.
Die Fahrstrecke war uns bekannt, so dass ich mir auch
zutraute, bei Nacht zu fahren. Wir mussten ein Bahngleis überqueren, das gut
beleuchtet war. Ich fuhr eine angemessene Geschwindigkeit, und ich hatte die
Überquerung schon von weitem gut im Blick. Sie war wirklich mit ihrem
gelbbräunlichem Licht nicht zu übersehen, ja sie war durch die Lichtfärbung
sogar sehr auffällig. Ich verlangsamte das Tempo - und dann erkannte ich, dass
die Schranke geschlossen war. Ich konnte wirklich gerade noch Bremsen. Das
Vorderrad hatte die Schranke unten weggeschoben. Durch das eigenartige Licht
hatte ich die weiß-roten Schranken übersehen. Kein Wegrutschen, Erika saß
fest hinter mir. Mächtiges Glück gehabt! Ich brauchte eine Verschnaufpause.
Oberschenkelbruch
Das andere Mal kam ich von der Uni Dortmund und sah, dass am
Straßenrand im ländlichen Bereich jemand lag. Ein Motorrad lag etwas weiter. Einige Leute sicherten
die Straße, andere kümmerten sich um den Motorradfahrer. Ich hielt, stieg
aus meinem Wagen, vielleicht konnte ich doch noch helfen.
Der Motorradfahrer war von einem PKW, der aus einem
Seitenweg herausfuhr, links erfasst worden. Oberschenkelbruch: Der untere
Teil des Oberschenkelknochens schaute vorn aus dem Oberschenkelmuskel heraus.
Vergeblich versuchten die Helfer das herausquellende Blut zu stillen. Keiner
hatte etwas, das sich zum Abbinden eignete. Kurz entschlossen zog ich meinen
Gürtel aus dem Hosenbund und reichte ihn den Helfern. Damit konnte man die
Wunde nicht ganz stillen. Auch ich nicht. Trotz starkem Abschnürung des
Oberschenkels oberhalb des Knies bzw. der Verletzung konnte keiner die
Verletzung völlig abbinden. Etwas Blut sickerte doch noch weiter hervor. Ein
paar trösteten den Verletzten, der bereits gerufene Rettungsdienst werde sicher
bald kommen.
Ich machte mich auf den Weg, bei irgendeinem Haus eine
geeignetere Binde oder Band zum Abbinden zu bekommen. Als ich zurückkam, war der
Sanitätswagen da gewesen. Aber keiner konnte mir sagen, ob der Rettungsversuch
erfolgreich gewesen war.
Nachdenklich fuhr ich nach Hause, unzufrieden, da wir
vielleicht nicht die richtige Art des Abbindens z. B. mit Knebel angewandt
hatten.
Als meine Frau mir die Haustür öffnete und mich blass und
blutverschmiert sah, schrie sie laut auf, da sie glaubte, ich hätte einen
schlimmen Unfall gehabt. Ich konnte sie schnell beruhigen. Alles ließ sich
abwaschen!
Am nächsten Tag erfuhr ich aus der Zeitun, dass der junge
Motorradfahrer früh genug im Krankenhaus angekommen war. Sein Leben konnte
gerettet werden. Mehr habe ich aber nie erfahren. Ich kaufte mir einen neuen
Gürtel.
Eine ungewöhnliche Art, eine Tür zu öffnen
Ich treffe mit einer Kollegin zusammen, mit der ich in der
2. Lehrerphase in der Ausbildung war. Damals war ich in Wettringen Lehrer und
fuhr zu dieser Ausbildung in der 2. Phase meistens nach Borghost.
Ich traf diese Kollegin nach vielen Jahren bei einem
Besuch meiner Schwester, die auch denselben Beruf wie ich hatte.
Zunächst erkannte ich sie nicht wieder, doch dann erinnerte sie mich an die
gemeinsame Ausbildungszeit in der 2. Phase. Es stellte sich dann heraus, dass ich das total vergessen
hatte und sie zunächst in meine Erinnerung nicht einordnen konnte. Sie wies
darauf hin, dass sie mich schon länger kenne, ja, vor meiner 1. Lehrerprüfung sei
sie schon bei uns in Burgsteinfurt gewesen, als sie meine Schwester, die sie schon
vom Studium her kannte, besucht hatte. Ich sei ihr damals schon aufgefallen,
nicht nur erst bei der gemeinsamen 2. Phasenausbildung, wo ich immer mit
Nachdruck meine Meinung vertreten habe. So hatte ich mich gar nicht in
Erinnerung; man sieht sich da wohl oft anders, als das Umfeld einen wahr nimmt.
Das Auffällige damals beim Besuch meiner Schwester in
Burgsteinfurt - noch im Haus meiner Eltern - sei gewesen, dass ich die Tür
geöffnet habe. Was sollte daran auffällig sein? Das kam aber gleich hinterher.
Ich wäre auf Händen gelaufen und hätte die Haustür mit meinen Füßen geöffnet. Ich
geriet in Erstaunen. Und dann dämmerte es bei mir. Ja, ich hatte eine Zeit - es
muss so um die Zeit gewesen sein, als ich Abitur machte, etwa 1954/1955 - da war ich ganz
verrückt, das Auf-den-Händen-Gehen gut zu beherrschen und führte alles eben
Machbare auf Händen-Gehend aus. Wieso konnte ich diese tolle Körperbeherrschung
so vergessen! Leider beherrsche ich diese Art zu gehen heute nicht mehr!
Mein 30.
Geburtstag
Ich bekomme ein Gedicht zu meinem 30.
Geburtstag. Es ist der 9.5.1964. Ich fand es heute, am 18.10.2012, wieder, als
ich aufräumte. Ouh, wie lang ist der Geburtstag her, was ist inzwischen
alles passiert. Damals wohnten wir noch im alten Haus auf der heutigen
Bergstraße von Albersloh, das damals zu Wolbeck gehörte.
"Schier 30 Jahre bist Du heut
auf dieser schönen Welt,
die Gott zu Deiner Lust und Freud
so herrlich hat bestellt.
Es flüstert leis im Tulpenbaum,
dahin ist all die Zeit.
Scheint es Dir heute wie ein Traum,
wahr bleiben Glück und Leid.
Dass Du in unserem Kreis verweilst
noch drei mal 30 Jahr
und froh und glücklich bist dabei,
wünscht Deine kleine Schar.
A. und H. I.
C. und Mama (Erika)
Danke Euch, meine kleine Schar. Damals ward Ihr 4 1/2, 2
1/2 und 1 Jahr alt. Mutter war 28 1/2. Viel Zeit ist bis heute vergangen,
viel Trauriges, nicht mehr Umkehrbares. Die Trennungen schmerzen am
meisten. Die "Mama" ist tot, die Kinder sind gegangen, wer besucht einen noch
von der kleinen Schar, obwohl sie sich ja vermehrt hat. Dennoch bin ich
zufrieden mit meinem Leben, denn ich habe jemanden gefunden, der mit mir durch
den Rest des Lebens geht. Dafür
danke ich sehr.
Meine Eltern lebten damals noch. Vater war 81, Mutter 68. Mein
Schwiegervater 54, Schwiegermutter 52. Zwischen beiden Elternpaaren lagen schon
Jahre. Erikas Großmutter war genau so alt wie mein Vater!
Alle 4 bis 6 Wochen besuchte die ganze Familie beide
Großeltern. Manches Mal öfter. Oma und Opa in Emsdetten hatte immer ein gutes
Mittagsessen und eine Süßigkeitskiste bereit. In Kinderhaus hatten die
Großeltern Plätzchen gebacken und auch eine leckere Mahlzeit bereit.
Meine Schwestern lebten damals auch noch. Meine Jüngste
als Sonderschullehrerin zu
Hause bei ihren Eltern in Kinderhaus, die Mittlerste in Heek als Lehrerin in der
Grundschule, die Älteste in Düsseldorf als Berufsschullehrerin.
Ich beim Steinmetz Winfried Häder
Der Steinmetz Winfried Häder, Münster, bot
Seminartage an, die Steinmetzarbeit kennen zu lernen. Ich hatte schon
länger den Wunsch, diese künstlerische Arbeit auszuprobieren. Besonders
interessant war das, nachdem ich die Steinmetzarbeit des Künstlers
Schemann, Sendenhorst, kennengelernt hatte. Das war nachdem ich das
Grabdenkmal für meine Frau realisieren wollte. Vergl.
Meine Hobbys.
Ich im Versuch, die Arbeit eines Steinmetz
kennen zu lernen im Oktober des Jahres 2013. Doch stellte ich fest, dass
das nichts für mich war. Mit Tonerde zu arbeiten, gefiel mir besser.
Machte mir auch mehr Spaß. Das hatte ich auch schon bewiesen bei der
Krippe und der Formung der hl. > Elisabeth.
3. Meine Geschwister, mein Bruder
Die Zahl Dreizehn hat
in meinem späteren Leben auch weiterhin Bedeutung gehabt. So wurde meine
spätere Frau auf dem 13ten, zudem noch auf einem Freitag, im Monat Dezember
geboren.
Alle
meine Schwestern sind entschieden älter als ich. Der Altersunterschied war
jeweils 4 Jahre. Von ihnen allen wurde ich immer sehr umsorgt. Mit anderen Worten: oft musste
ich feststellen, dass ich zu meiner richtigen Mutter praktisch noch drei
weitere Mütter hatte. Doch habe ich mich gut frei gestrampelt, das war
besonders nötig, als ich recht früh - im Hinblick auf unsere geltenden familialen Lebensregeln - ein Mädchen kennen
und lieben lernte, das später auch meine Frau wurde. Zudem vertrat innerhalb
der Familie besonders wohl mein Vater beim Thema Umgang Jugendlicher mit dem
anderen Geschlecht auch für damalige Zeiten eine
sehr konservative Meinung und Praxis.
(darauf
klicken
zur Vergrößerung, zurück auf Pfeil oben links )
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Familie ohne Heinz,
ich etwa 2 J.
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Ich, gut 3 J. |
Heinz im Büro, bei "Onkel Vernier", 19 J., Semesterarbeit:
Geldverdienen |
Heinz im Krieg.
1941 -
20/21 J.
+1945 |
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Übrigens habe ich
nur wenige Erinnerungen an meinen Bruder Heinz. Er war doch schon viel aus dem
Haus, er lernte zuletzt in einem Internat (Vechta, Dominikanerkloster). Nach dem Abitur studierte er Chemie. In
den Semesterferien hatte er Einsatz zu leisten, er, neunzehnjährig, arbeitete
auf dem Büro der Kaserne in Münster auf der Steinfurter Str. Diese Stelle fand
er durch einen Bekannten, den wir Onkel Josef bzw. Onkel Vernier nannten. Ein Bild zeigt
meinen Bruder dort am Bürotisch.
Nach
drei Semester Studium machte er sein Vordiplom. Er war in seinem Studium so
durch gutes Wissen aufgefallen, dass der prüfende Professor zum
Prüfungstermin befand: "Eine
Prüfung brauchen sie nicht zu machen, ich unterhalte mich nur ein wenig
mit ihnen." Er hatte ja auch zu Hause einen "Giftschrank", so nannten
wir den Schrank in dem er alle seine stinkenden Reagenzien aufbewahrte.
Einmal machte er einen grünen Kunsthonig, solchen gab es schon als
gelbliche Ausführung im Geschäft, es war ja Kriegszeit. Aber wir
mochten nichts von seinem "Gifthonig" essen.
Nach dem Vordiplom meldete er sich dann freiwillig zum Arbeitsdienst - vormilitaristische Erziehung unter Hitler -, da er glaubte, danach sein Studium beenden
zu können. Der Krieg
Hitlers machte durch seine Pläne einen Strich. Er wurde gleich im Anschluss an
seinen Arbeitsdienst eingezogen, später dann an die Westfront geschickt, kurz
vor Kriegsende zur Ostfront. Er kam nicht wieder aus dem Krieg zurück.
Meine deutlichste
Erinnerung an ihn war im Krieg ein Kurzurlaub von nicht mal zwei Tagen, als er auf einer Durchreise vom westlichen zum östlichen Schlachtfeld bei uns zu Hause auftauchte.
Ich ging mit ihm
durch unser kleines Städtchen, damals hieß es noch Burgsteinfurt, und schaute zu ihm auf. Auf seiner linken Seite
ging ich, ich weiß es noch genau. Was war ich stolz, einen großen, älteren Bruder zu
haben und vorzeigen zu können. Über 1,80 m war mein Bruder; ich dagegen war für
mein Alter ausgesprochen klein. Immer der Kleinste in der Klasse.
Diese Begegnung
war zugleich die letzte. An dem frühen Morgen, als mein Bruder zur Ostfront
aufbrach, brachte mein Vater ihn zu einer Ausgangsstraße, von der er per
Anhalter weiter nach Osten reisen wollte, um als Fähnrich seinen Auftrag,
Quartiere für sein Battalion zu suchen, nachzukommen. Ich erinnere mich genau,
dass einen Tag später um dieselbe Uhrzeit genau die Stelle der Landstraße, wo
mein Vater und mein Bruder sich zum Abschied umarmten, von Flugzeugen
bombardiert wurde. Mein Vater hat das wohl als gutes Omen angesehen, dass sein
Sohn auch an der Ostfront Glück haben werde. Er wollte wohl nicht wahr haben,
dass sein Sohn ahnungsvoll im Abschiedsmoment ihm sagte: "Vater, ich komme
aus diesem Krieg im Osten nicht wieder zurück." Wie wahr wurden die Worte meines
Bruders. Mein Vater hat die Worte seines Sohnes tief in seinem Herzen verborgen.
Erst viel später, nachdem die Ahnung sich bewahrheitet hatte, berichtete er von
diesem letzten, schmerzlichen Abschied und seinen beängstigenden Worten.
Am 11. März 1945,
ein paar Tage vor Kriegsende, ereilte ihn das Schicksal im Osten, das viele
teilen mussten. Er schaute an diesem Tag über den Schützengraben, der Feind
machte einen Angriff. Ihn traf ein Kopfschuss, er war sofort tot. Er soll auf dem Friedhof bei Retzowfelde begraben liegen. Ein
kleines Holzbrettchen in der katholischen Pfarrkirche von Burgsteinfurt erinnerte
an ihn. Mit der Renovierung der Kirche wurden diese Täfelchen -
unverständlicherweise - entfernt und
durch einen monatlichen Erinnerungshinweis ersetzt.
Die Nachricht
vom Tod meines Bruders kam nach der Silberhochzeit meiner Eltern. Der
Bataillonskommandeur, der Theologie studierte, hatte sich zur Aufgabe gemacht,
alle Familien der Gefallenen aus seinem Bataillon selbst zu informieren. Er war
schon Tage früher bei unseren Bekannten gewesen und hatte gehört, dass meine Eltern
Silberhochzeit feierten. Deshalb wartete er mit der Todesnachricht ein paar
Tage.
Nun war ich der einzige Junge in der
Familie, so wie mein Bruder es mal gewesen war. Mein
Vater äußerte in diesen Tagen der Nachkriegszeit, nachdem er die Nachricht über
den Tod seines ältesten Sohnes erhalten hatte: "Ich habe mir
mein Alter wirklich anders vorgestellt!" Aber wie viele Menschen
machten diese schmerzliche und traurige Erfahrung gerade nach dem Krieg. Man hört aber
auch heute oft solche Klagen, wenn das Schicksal herb zuschlägt.
(Wird
fortgesetzt)
4. Meine Schwester Beate
Aus den Aufzeichnungen meiner jüngsten
Schwester Beate
(Meine Schwester Beate schrieb zuerst in
der Erzählform in der dritten Person, später aber weiter in der
Ich-Form)
Die
kleine Beate wurde 1930 als 4. Kind geboren. Die Familie Kerkhoff hatte
damals eine wunderbar helle und große Dienstwohnung auf der
Kronprinzenstraße in Münster. Die Wohnung lag über der
Landwirtschaftsschule und der Vater hatte sie bekommen, weil er Beamter
der Landwirtschaftskammer war.
An diesem Tag war das Bett der Mutter ins
Esszimmer gestellt worden; der Arzt und die Hebamme waren gekommen.
Alles nahm seinen Lauf, wie das bei einer Hausgeburt nötig war; aber das
Kind ließ auf sich warten.
Schließlich sagte der Arzt: „Wenn das Kind
nicht in den nächsten zwei Stunden kommt. ist es tot.“ Und er ging. Für
alle völlig unverständlich. „Rufen sie mich an“! Und genauso wie der
Arzt verhielt sich die Hebamme. Die Mutter bekam einen ungeheuren
Schock, der sich auf die Geburt positiv auswirkte. In der nächsten
halben Stunde wurde das Kind förmlich ausgestoßen. Mit wenigen Wehen,
der Vater war allein für die Hilfe da.
Das Kind, ein Mädchen, war sehr klein. Es
schrie aus Leibeskräften, was es auch in den folgenden Monaten immer
wieder tat. Die Hebamme wurde schnell zurückgeholt, aber sie brauchte
nur die nachgeburtliche Versorgung zu machen.
Die Mutter aber wies nach der Sturzgeburt eine
Lähmung auf, die etwa ein halbes Jahr andauerte und sich dann verlor.
Erschwerend für die Geburt war, dass die
Schwester der Mutter am Tage vorher gestorben war. Sie hatte seit der
Hochzeit in der Familie ohrer Schwester, meiner Mutter, gewohnt, da die Eltern früh starben.
So war also Beate auf diese Welt gekommen:
klein, sehr empfindlich und empfindsam – und schreifreudig, gar nicht
zur großen Freude der 8-jährigen Schwester, die zur Aufgabe hatte, den
Schreihals zu wiegen und zu beschwichtigen. – In der Josefskirche in
Münster wurde die kleine Beate getauft.
Indes entwickelte sich aus dem kleinen zarten
Mädchen ein munteres Kind, pummelig, aber sehr sensibel. Wenn die Mutter
in diesen ersten Jahren ein Missfallen äußerte, ja nur die Worte sagte:
„Nun sei doch mal artig!“, so setzte sich das Kind zwischen zwei
Schränke, wo ein Fußbänkchen stand, und fing an zu singen: „Miau, miau
miau, ich armes Kind, unsere Mutter mag mich nicht mehr leiden.“ Keiner
tröstete das Kind, die anderen Kinder fragten dann: "Warum sagst du immer
miau und nicht wau wau?“ Eines Tages hörte man dann die kleine Beate
singe: „Miau wau wau, miau wau wau, meine Mutter mag mich nicht mehr
leiden!“ Und dabei blieb es.
In diesen Jahren 1934/35 war das Leben in
Münsters Kirchen noch sehr lebendig. Die Josefpfarre hatte so viele
Kapläne, dass werktags an den Nebenaltären Messe gehalten wurde. Morgens
um 8 Uhr war Müttermesse und sonntags besuchten viele Leute die
Sonntagsandacht gegen Abend. Auch mein Vater zog mit einigen Kindern in
die Andacht und ich – Beate war immer dabei. Ich liebte die große Halle
der Kirche und die feierlichen Dinge. Sanft erklang das Orgelspiel und
der Weihrauchduft legte sich über alle Gläubige. Und – dann? Schlief ich
ein, angelehnt an Vaters Seite und wurde erst wieder wach, wenn wir auf
unserem kurzen Heimweg waren, währendem mich mein Vater trug. (So Beates
Berichterstattung).
Jedoch blieben die sonntäglichen
Andachtsbesuche nicht das einzige. Plötzlich ging ich in die
Müttermesse. Meine Mutter hatte natürlich mit dem Haushalt, der großen
Wohnung und den 5 Kindern keine Zeit. Ich – die Beate - nahm also ein
Gebetbuch, das ich in der Kirche verkehrt herum legte, lesen konnte ich
natürlich nicht und setzte mich in die erste Bankreihe. Ich betete nicht
und blickte auch nicht zum Altar. Ich drehte mich um und schaute, was
die die Frauen in den anderen Bänken machten. Man staunte sehr, dass ein
so kleines Mädchen allein in der Kirche war. Ich frage mich heute noch,
wie meine Mutter mich dort allein hat hingehen lassen.
Ein Ereignis aus diesem Jahr setzte meine
Mutter in Angst und Schrecken. Am Aschermittwoch, es war damals üblich,
dass sich jeder Christ am Aschermittwoch ein Aschekreuz holte, ging
meine Mutter mit mir nach vorn in die Kirche, wo früher die
Kommunionbänke standen, um das Aschekreuz auf die Stirn gezeichnet zu
bekommen. Als der Geistlich sich zu mir beugte, schrie ich aus
Leibeskräften: „Ich will kein Hakenkreuz“! Wir hatten Hitlers
Machtergreifung hinter uns. Mein Vater war Beamter. Sicher war zu Hause
vom Hakenkreuz gesprochen worden, weil mein Vater in die Partei
eintreten sollte, aber aus seinen Prinzipien heraus es nie tat. Wie
konnte ein kleines Kind ohne viele Gespräche gehört zu haben, so etwas
rufen?
Irgendwann hörten die Kirchenbesuche dann auf.
Ich glaube, dass einige Frauen sich über mich beschwerten: „Die Kleine
drehte sich immer um und zappelt herum. Sogar an die Kommunionbank ist
sie gelaufen. Sie können das Kind doch nicht allein lassen!“
In dieser Zeit wurde mein großer Bruder Heinz
sehr krank. Er hatte hohes Fieber und der Arzt diagnostizierte
Hirnhautentzündung.
Mein Bruder hatte von seinem Onkel – Karl hieß
der, war meines Vaters jüngster Bruder und Schreiner -, einen Altar
gearbeitet bekommen, vor dem alle Kinder oft Messe spielten. Er war
geschmückt und davor beteten wir für die Gesundung des Bruders. Damals
gab es noch kein Antibiotika.
Ich hörte damals, wie der Arzt sagte:
„Entweder stirbt der Junge in dieser Nacht , oder er ist geistig nicht
mehr normal!“
Ich weiß nicht, ob eine Gesundung ganz
ausgeschlossen war, ich war ja noch so klein.
Aber das Wunder – unser Wunsch - geschah.
Meines Bruders Fieber war am nächsten Tag gebrochen. Sein Gehirn hatte
keinen Schaden genommen. Er machte später sein Abitur, Mathematik mit
Eins im Schriftlichen. Sein Abi-Prüfung machte er in der Klosterschule
der Dominikaner in Vechta 1939; Ostern 1936 war er dort aufgenommen
worden.
Es war das Jahr 1936, als ich eingeschult
wurde. Meine Schule wurde die Josefschule in der Nähe Hammerstraße. Um
dorthin zu gelangen musste man die Hammerstr. überqueren. Das war auch
früher schon gefährlich, als noch nicht so viel Verkehr war. So schickte
mich meine Mutter jeden Tag zum Ende der Schulmesse, die täglich um 7
Uhr stattfand, hinten an die Josefkirche, damit ich mit den großen
Kindern und Lehrern die Straße überqueren konnte.
In der 1. Klasse bekam ich die Lehrerin Frl.
(so sagte man früher) Schemmer, die mir von meiner 7 ½ Jahre älteren
Schwester Cissi her bekannt war. Die hatte diese Lehrerin in den ersten
vier Schuljahren gehabt.
Irgendwann im Jahre 1936 verloren wir unsere
herrliche Dienstwohnung. Den Grundriss weiß ich nicht mehr, aber meine
Schwester kannte ihn noch( da wurde auch ich, W.K., geboren; ist auch im Internet mit
Grundriss zu finden unter http://www.kerkhoff-w.de/ein_2__junge.htm).
Beate schreibt weiter:
Meine Schwester, welche weiß ich nicht mehr,
meinte, dass die Landwirtschaftsschule vergrößert wurde; ich hörte auch,
vielleicht wollte jemand „Höheres“ die Wohnung haben.
Die Gründe waren für meine Eltern egal: Sie
mussten auf Wohnungssuche gehen. Es erwies sich als schwierig, mit 5
Kindern, denn inzwischen war mein kleiner Bruder geboren, und für wenig
Geld eine neue Wohnung zu finden; denn ein kleiner Beamter, wie mein
Vater war, konnte damals auch nur gerade überleben. Schließlich fanden
sie etwas auf der Steinfurter Str. Das Haus stand ( und steht auch heute
noch dort, es wurde nicht im 2. Weltkrieg zerstört ) direkt an der
Straße, hatte einen kleinen Garten oder Hof, wie wir früher sagten.
Das Josefviertel war eine Art Heimat für mich
kleinen Mädchen gewesen und nun zogen wir in ein anderes Viertel.
Sonntags gingen wir ab jetzt in das Kapuzinerkloster zur Messe. In der
Schule waren die Lehrer viel strenger. Bisher hatte ich noch gar nicht
richtig gelernt, ich kannte kaum einen Buchstaben und konnte nicht
schreiben. Die Kinder der Uppenberg-Schule – damals Volksschule, heute
ist in deren Gebäude die Eichendorff-Realschule -, in die ich nun ging,
übten mit ihren Lehrern kräftig die Buchstaben. Da saß ich nun: fremd,
konnte nichts und zu allem Unglück hatte mir meine Mutter eine große
rote Schleife oben auf meine Haare gesetzt, die bei jeder Bewegung hin
und her rutschte.
Da ich ein sehr unruhiges Kind war, bekam ich
den Denkzettel dafür. Immer wieder musste ich nachsitzen. Die Buchstaben
auf meiner Tafel waren nicht schön und zügig geschrieben. Ich hatte
entweder gezappelt oder nicht aufgepasst. Die Lehrerin wurde für mich
ein großer Schulschreck, ich fühlte mich einfach nicht schuldig.. Darum
erzählte ich zu Hause nichts. Doch mit des Geschickes Mächten ist kein
ewger Bund zu flechten, so sagt Schiller, und auch bei mir nahte das
Verhängnis.
Wieder kam ich später von der Schule. Aber
diesmal war meine Schwester (14 Jahre) vor mir da. Sie stand mit Mutter
am Küchenschrank und sagte: „Jetzt wissen wir, warum du immer so spät
kommst. Du musst immer nachsitzen.“
Wie hatte das herauskommen können? Die
Zwillinge in meiner Klasse hatten eine Schwester bei meiner Schwester
auf dem Marienlyzeum. Sie hatten wohl von dem neuen Kind erzählt, das
immer nachsitzen musste.
Für mich war die Zeit des Wohnens auf der
Steinfurter Straße die Zeit des Rollschuhlaufens und der öfteren
Sendbesuche (so wird die dreimalige große Kirmes in Münster, Westfalen,
genannt).
Zwar durfte ich nur auf der Straßenseite
fahren, wo unser Haus lag und wir wohnten, aber bald war ich mit meinen
Rollschuhen auf der gegenüberliegenden Seite, weil dort der Bürgersteg
entschieden glatter war. Und so fuhr ich, entwickelte eine tolle
Fahrtechnik, aber fiel auch oft. O weh! Die vielen Strümpfe, die ich
dabei zeriss. Ich trug damals selbstgestrickte Strümpfe. Nach kurzer
Zeit waren sie dick verstopft. Außerdem entwickelte ich eine
Bronchitis. Mein Vater kochte Hustentee – Zinnkraut oder
Ackerschachtelhalm gegen Husten und Blasenentzündung, auch meine spätere
eigene
Familie bekam diesen herben, aber wirksamen Tee (W.K.) – und mahnte: „Du
musst mit geschlossenem Mund fahren, sonst bekommst du zuviel kalte Luft
in die Lunge!“ Aber es nützte nichts. Eines Tages waren meine Rollschuh
verschwunden; sie sind nie wieder aufgetaucht.
Die Steinfurter Str. liegt nicht weit vom
Hindenburgplatz – heute Schlossplatz – entfernt, wo schon immer Münsters
Send stattfand. In dem Jahr fuhr meine große Schwester oft mit dem
kleinen Bruder aus. Ich ging auch mit. War es verwunderlich, dass meine
Schwester den Weg zum Send einschlug? Geld gaben wir nicht dort aus,
denn wir hatten keins. Und wenn, dann konnten wir vielleicht eine
Zuckerstange für 5 Pfg. kaufen und waren schon sehr glücklich.
Doch meine Mutter kam hinter die heimlichen
Sendbesuche. Sie war ziemlich böse, war es doch in ihren Augen sehr
gefährlich, dass wir Kinder allein zwischen den vielen Leuten und
Schaustellern herumliefen.
Lange wohnten wir nicht auf der Steinfurter
Str. Die Gründe für den Wegzug weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich
nur daran, dass die Hausbesitzer einen kleinen Hund hatten, der sein
Geschäft in unseren Sandkasten machte; es kann aber auch ganz anders
gewesen sein. Interessant ist nur, dass es meine Eltern wieder in das
Josefviertel verschlug. Dieses Mal bekamen wir eine Wohnung in einem
herrschaftlichen Haus auf der Hochstraße. Im Keller befand sich die Küche,
Abstellkammern usw. Meine Mutter musste für die Heizung des ganzen
Hauses sorgen. In Parterre waren zwei große Wohnzimmer und die drei für
uns notwendigen Schlafzimmer. Im Garten erhielten wir eine große
Sandecke.
|
Die vier jüngeren Kinder der
Familie Kerkhoff
1937 auf der Hochstr. in Münster ;
der älteste Sohn Heinz war in Vechta auf der
Internatsschule der Dominikaner (l. Beate,
vorn ich, rechts Felicitas, etwas zurück meine älteste Schwester
Franziska ) |
Ich besuchte wieder die Josefschule - so berichtete meine Schwester
Beate - und erlebte die nächste
schulische Niederlage. Hatten doch die Kinder von Frau Schemmers Klasse alles
aufgeholt und lasen jetzt sogar Texte.
Wieder saß ich da und konnte nichts. Nur – es
war nicht so dramatisch. Von Nachsitzen war nicht die Rede. Und dann –
kam für mich ein wunderschönes Erlebnis: Im Lesebuch stand eine
Geschichte vom Tannenbaum in Druckschrift. Die sollte ich lesen. Ich
hatte aber bis vor kurzem nur die Sütterlinbuchstaben gelernt.
Plötzlich, als ich die Buchstaben so
anstarre, platzte der Knoten. Ich konnte jedes Wort lesen. Ich konnte
wirklich lesen!
1911 in Preußen verbindlich,
1941 verboten unter Hitler
(Diese Schriftart
wurde 1911 von Sütterlin im Auftrag des Preußischen Staates erfunden und
1941 ersetzt durch die lateinische Schrift. Auch ich (W.K.) habe die
Sütterlinschrift in einer veränderten Form gelernt und kann sie gut
lesen. Trotz aller didaktischen bzw. schulischen Bedenken halte ich die
Sütterlin für eine schöne Kunstform der Schrift.)
Meine Schwester Beate schreibt weiter:
Ab da entwickelte ich mich zu einem
Schnellleser, ja zu einer „Leseratte“. Einige Jahre später las ich an
einem Sonntag 1000 Seiten! (Meine Schwester war wirklich eine
Schnellleserin!! W.K.)
In dieser Zeit lernte ich Fahrrad fahren. Und
zwar in einer Sandkuhle, die sich an die Hochstr. anschloss.
Meine Schwester hatte nämlich ein Kinderrad,
dem sie nun langsam entwuchs. Ich konnte, weil ich so klein war, nicht
auf dem Sattel sitzen, sondern musste im Stehen fahren. Mein Vater lief
hinterher.
Bis zu sechs Jahren hatte mich mein Vater auf
dem Rad oft im Körbchen mitgenommen, wenn wir zu unserem Schrebergarten
auf der Geist fuhren. Eines Tages hielt uns die Polizei an. Bis vier
Jahre durfte man nur ein Kind in dem Korb am Fahrrad mitnehmen. Weil ich
so klein und mickrig war, gaben sie meinem Vater nur eine Verwarnung.
Es sind schöne Erinnerungen an diese
Garten-Kolonie. Sommerfeste, Blumen, ein Rundlauf auf dem Spielplatz.
Eines Tages gewann meine Schwester ein lebendiges Kaninchen, das jeden
Tag gefüttert werden musste. Es verschwand natürlich im Kochtopf.
Angeblich war es weggelaufen.
Die herrschaftliche Wohnung verschlang das
Geld. Es wurde zunächst ein Zimmer an zwei Studenten der Theologie
vermietet. Als meine Eltern, das nicht weiterbrachte, mussten wir wieder
umziehen. 1938 zogen wir in die Leererstr. Dieses Stadtviertel bekam
eine neue Kirche, die Elisabeth-Kirche (1939 fertig). Zunächst gab es
eine Notkirche auf der angrenzenden Schillerstr., wo auch 1938 der
Weihnachtsgottesdienst gefeiert wurde.
Mit dem Umzug in das Elisabethviertel verbunden
war, dass ich wieder eine andere Volksschule besuchen musste. Diesmal
war es die Fürstenbergschule am Kanal, die neben der Handelsschule am
Hansaring lag. Als meine Mutter mich anmeldete, wollte der Rektor mich
wegen meiner geringen Körpergröße ins 1. Schuljahr stecken. Ich gehörte
aber ins 3. Schuljahr. Mein Klassenlehrer wurde der Rektor selbst.
Ich wurde jetzt eine gute Schülerin. Mit dem
Lesen hatte ich keine Schwierigkeiten mehr, ich konnte besonders gut
rechnen und spielte gern Theater.
Aber auch hier fiel ich durch mein unruhiges
Wesen auf. Außerdem hatte ich mir ein Grinsen bei beschämenden Anlässen
angewöhnt.
So geschah es eines Tages, dass es auch für
mich Stockhiebe gab. Der Rektor war mit dem Benehmen der Klasse nicht
zufrieden und schimpfte uns aus. Ich grinste. Da platzte ihm, durchaus
verständlicherweise, der Kragen. Er kam auf mich zu und rief: „Du
gehörst auch dazu!! Komm mal nach vorn!“ und damit knallte der Stock
einige Male auf meinen Rücken. Ich fing aber nicht an zu weinen, sondern
musste wieder grinsen; aber ich machte mich schnell auf meinen Platz.
Lehrer Meier hatte eine Geige. Er gab Singen
bei uns. Einmal war er so ärgerlich, das er mit dem Geigenbogen
zuschlug. Weil das Kind sich aber schnell wegduckte, ging der Bogen auf
der Bank in Stücke.
Kommentar
Winfried Kerkhoff, Bruder der Beate:
Leider sind hier die Aufzeichnungen zu Ende; mehr
hat meine Schwester mir leider nicht hinterlassen. Dass meine Schwester
überhaupt etwas schrieb, veranlasste ich, nachdem ich sie einiges über
ihre frühe Kindheit erfragt hatte in der Hoffnung, auch einiges über mich
zu erfahren. Doch, leider tauche ich in ihren Erinnerungen kaum auf.
Doch aus ihren mündlichen Berichten weiß ich,
dass meine Schwester während des 2.Weltkrieges wichtige Aufgaben
übernahm, da mein Vater in den Rollstuhl kam.
Mein Leben - in
kleinen Berichten - von Winfried Kerkhoff (Forts.)
(Wird
fortgesetzt)
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